Frankreich stellte im Rahmen des von Hitler besetzten Europa einen Sonderfall dar. Das hatte vor allem damit zu tun, daß ihm nach der Niederlage im Sommer 1940 ein Rest an Selbständigkeit geblieben war. Deshalb konnten sich im Land einerseits Kräfte entfalten, die eine Zusammenarbeit mit der Siegermacht als Basis für die Schaffung eines Systems nach deutschem Modell betrachteten, und anderseits Gruppierungen entstehen, die die „Kollaboration“ gezwungenermaßen hinnahmen, aber gleichzeitig auf eine „Nationale Revolution“ hofften, die tatsächlich der Erneuerung Frankreichs dienen und helfen werde, seine Souveränität wiederherzustellen.
Entsprechend buntscheckig war das Neben- und Gegeneinander verschiedener Ansätze und Initiativen. Es gab solche, die mit ihrer Tradition in die Zeit der Republik zurückreichten, und zahlreiche Neugründungen, eher politisch oder eher kulturell ausgerichtete Tendenzen, solche sektiererischen Charakters und solche, die auf breiter Basis organisiert wurden, manche, die in Nationalsozialismus oder Faschismus ein Vorbild sahen, andere, die glaubten, man müsse an der Tradition – nicht zuletzt der religiösen – Maß nehmen.
Wer einen gewissen Eindruck von der chaotischen Vielfalt dieser Kräfte gewinnen will, sollte das neue Buch von Bernard Lamorlette zur Hand nehmen, das sich auf einen wesentlichen Aspekt der Entwicklung nach dem Abschluß des Waffenstillstands im Sommer 1940 konzentriert: Gemeint sind die Jugendverbände im Vichy-Frankreich. Der Verfasser hat akribisch und mit einer außerordentlichen Fülle an Materialien – Dokumente, Fotografien, Publikationen, Embleme – ein halbes Hundert Organisationen lexikalisch geordnet und vorgestellt.
Jugendverbände hatten Rückhalt in Bürgertum und Kirche
Er hebt dabei hervor, daß Großverbände wie die Compagnons de France und die Chantiers de la Jeunesse nicht nur die Überlieferung der Pfadfinderschaft aufnahmen, sondern gleichzeitig die junge Generation für einen Arbeitseinsatz mobilisierten, der notwendig war, um die große Zahl der in Deutschland festgehaltenen Kriegsgefangenen zu ersetzen.
Allerdings begnügten sich weder die Compagnons de France noch die Chantiers de la Jeunesse mit der Erfüllung dieser praktischen Aufgabe, denn ihre Führung hatte den Ehrgeiz, ihre Mannschaft körperlich wie moralisch zu ertüchtigen, um die Dekadenz der republikanischen Zeit zu überwinden. Der Rückhalt, den man dafür im Regime Pétains gewann – es gab ein eigenes, finanziell sehr gut ausgestattetes Generalsekretariat der Jugend –, aber auch in der breiten Bevölkerung wie im Bürgertum und der Kirche fand, darf nicht unterschätzt werden. Das galt selbst für den streng hierarchischen Aufbau, die Orientierung an militärischer Disziplin und einem entsprechenden Zeremoniell.
Der äußere Eindruck könnte deshalb zu der Annahme verleiten, daß der Unterschied gegenüber den Nachwuchsverbänden der faschistischen Parteien und Milizen nur ein gradueller war. Aber dagegen ist zu betonen, daß die Jugendorganisationen des Parti Populaire Français, des Francisme, des Rassemblement National Populaire, des Parti Français National-Collectiviste, des Parti National Socialiste français – also der Französischen Nationalsozialistischen Partei – oder der Milice an einem totalitären Konzept orientiert waren.
Frankreichs Platz im neuen Europa?
Soweit es hier nicht einfach um Imitation ging, verfolgten sie das Ziel, für Frankreich einen Platz in der von Deutschland geschaffenen Ordnung des Kontinents zu sichern. Aufschlußreich war insofern die Bezeichnung der studentischen Jeunesse de l’ Europe nouvelle. Denn diese „Jugend des Neuen Europa“ griff eine Parole auf, die zwischen Westfeldzug und der Niederlage von Stalingrad eine nicht ganz unerhebliche Anziehungskraft entfaltete. Schien es doch um die Schaffung eines europäischen Staatenblocks unter deutscher Führung gegen die angelsächsischen Mächte wie die Sowjetunion zu gehen.
New Fascist political party has been formed in occupied France: Rassemblement National Populaire „will protect the French race“. pic.twitter.com/7v3FARqw6m
— Second World War tweets from 1941 (@RealTimeWWII) February 1, 2025
Die Gestalt dieses Neuen Europa schien noch im Fluß, und es gab, wie Lamorlettes Arbeit deutlich macht, nicht nur Opportunisten, die eine Chance sahen, Karriere zu machen, und Spinner, die von einem Orden arischer Supermenschen träumten, der die Weltherrschaft übernehmen würde, sondern auch Idealisten, die glaubten, daß die Stunde der engeren Zusammenfassung der europäischen Völker geschlagen habe.
Auch wenn der Verfasser für seine Untersuchung den ganzen Zeitraum zwischen 1940 und 1945 einbezieht, wird man betonen müssen, daß im Grunde schon mit den Rückschlägen, die die Wehrmacht im Osten erlitt und dem Beginn der alliierten Invasionen alle Erwartungen in das Neue Europa erledigt waren und die Träger der vorgestellten Gruppierungen in den Strudel der militärischen Ereignisse, der Befreiung Frankreichs und die folgenden Säuberungen hineingezogen wurden.
Irritierende Bilder begleiteten Endphase der Besatzung
Wobei Lamorlette in seiner Arbeit auch deutlich macht, daß die Entscheidungen, die von den einfachen Mitgliedern wie dem Spitzenpersonal der Jugendorganisationen getroffen wurden, ähnlich divergierten wie in allen anderen Bereichen des Regimes. Das heißt, es gab jene, die voller Überzeugung in den Endkampf zogen und andere, die sich in einem schmutzigen Krieg gegen die Résistance verheizen ließen, aber auch jene, die sich im Alleingang oder in Gemeinschaft auf die Gegenseite schlugen.
So hat Lamorlette in seinem Buch das irritierende Bild eines Panzerfahrzeugs der Equipes Nationales – einer Art von Vaterländischem Hilfsdienst – wiedergegeben, das nebeneinander mit Lothringerkreuz und Keltenkreuz markiert war. Das Lothringerkreuz war das Abzeichen der Anhänger de Gaulles, das Keltenkreuz das Symbol der Equipes. Erklärt wird das mit dem Hinweis darauf, daß die Equipes nach der Räumung von Paris durch die deutschen Truppen das Hauptquartier der Gendarmerie samt Waffenlagern gesichert hatten und einer ihrer Verbände, der schon zur Résistance übergetreten war – das Bataillon Hémon –, die Ehrengarde für de Gaulle bei dessen Einzug in die Hauptstadt stellen durfte.
—————————————————————————————————————————————
Bernard Lamorlette: Jeunesse de France sous l’Occupation 1940–1945. Éditions Heimdal, Saint-Martin-des-Entrés 2025, gebunden, 304 Seiten, Abbildungen, 55 Euro.