Einen Hinweis zum Thema „Trauma, Angst und Liebe“ bekam ich zugespielt. Der Münchner Psychotherapeut Franz Ruppert hat sich nämlich in Büchern mit so genannten „Trauma-Energien“ beschäftigt, also unaufgearbeiteten psychischen Spaltungen, die über Generationen weitergereicht werden können. Da individualpsychologische Erkenntnisse mindestens teilweise auch auf kollektive Erfahrungen übertragen werden können, habe ich die auf Rupperts Webseite abgelegten Vortragsfolien zu „Tätern“ und „Opfern“ gleich aus diesem anderen Blickwinkel gelesen.
Vor vierzehn Tagen widmete ich mich einigen neueren Filmen, in denen das Thema der Vertreibung nach 1945 eine wichtige Rolle spielt. Doch solche künstlerischen Produkte der Aufarbeitung sind noch seltene Einzelfälle. Es herrscht ein auffälliges Ungleichgewicht in der bundesdeutschen „Gedenkkultur“. Haben seit den 70er Jahren das Thema Holocaust oder die Verfolgung linker Widerstandsgruppen während der NS-Zeit eine dominante, teils sakralisierte Bedeutung erlangt, so wurden andere deutsche Opfergeschichten jener Jahre, die auch andere Akteure als „Täter“ belasten könnten, zunehmend ausgeblendet und marginalisiert.
Erhebt sich gelegentlich eine hörbare Stimme, die diesen deutschen Opfern ihr Recht in der deutschen „Gedenkkultur“ zukommen lassen möchte, wird diese umgehend mit dem naseweisen Verweis attackiert, daß man „Opfer und Täter“ gleichsetze, die deutschen Toten somit höchstens solche zweiter oder dritter Klasse darstellen. Diese Lektion wurde gelernt und sie bedarf ständiger Wiederholung, ist sie schließlich ein überaus wichtiges Instrument, um die außenpolitische Kontrolle über den wirtschaftlich bedeutenden deutschen Industriestandort zu wahren.
Das Nicht-Reagieren ist eine Notfallreaktion des Opfers
In konservativen Kreisen ist des öfteren zu hören, daß sich Deutschland seit 1945 in einer traumatisierten Phase befände. In diesem Zusammenhang sind die Worte Ernst Jüngers überliefert: „Von einer solchen Niederlage erholt man sich nicht.“
Nun hatte ich also dies im Hinterkopf, als ich mir die Vortragsfolien Franz Rupperts ansah, die mir wie ein zufälliger Beweis von der These der „traumatisierten Nation“ erschienen. Nach Rupperts Begriffsdefinition von „Täter“ und „Opfer“ erklärt er, daß das Opfer durch eine Streßreaktion auf das ihm zugefügte Leid den Schaden noch größer machen würde. Das Nicht-Reagieren sei also eine Notfallreaktion des Opfers, um seine Überlebenschancen zu erhöhen. Somit füge es sich in die Situation, erlebe sich aber als hilflos und ohnmächtig.
Diese Reaktion läßt sich nun sehr deutlich am Verhalten der Deutschen nach dem Ende des letzten Krieges ablesen, es reicht teils auch bis in heutige Tage. Man verzichtete auf weitere Widerstandshandlungen und begab sich in ein Gefühl der politischen Ohnmacht. Dies ungeachtet dessen, daß sich für einige politische Gruppen nun separate Möglichkeiten der Partizipation und des Neuanfangs ermöglichten. Ich spreche also von der kollektiven, nationalen Grunderfahrung. Nach Ruppert ermögliche die Persönlichkeitsspaltung dem Traumatisierten das Weiterleben, sie sei eine Überlebensstrategie. Das heißt, die Opfererfahrung werde verdrängt und abgespalten. Die Traumatisierung werde geleugnet, Erinnerungen werden zu löschen versucht, Impulse zu einer Gegenwehr unterdrückt.
Das wohlhabende Deutschland ist nur sehr mittelmäßig glücklich
Das Ergebnis der Verdrängung seien, laut Ruppert, eigene Schuldgefühle. Zudem komme die Vorstellung, die Schädigungen, die man selbst erfahren hat, seien eine „gerechte Strafe“. Man nehme den Täter also nicht als solchen wahr, sondern nehme ihn noch in Schutz. Ja, man identifiziere sich sogar mit den Bedürfnissen des Täters.
Als Nebeneffekt zeige sich die Traumatisierung in ständigem Klagen, Leiden, Jammern, ohne wirklich stichhaltige Gründe dafür angeben zu können. Laut einer hier verlinkten Datenerhebung liegt das wohlhabende Deutschland auf der Europakarte des gefühlten Glücks offenbar nur auf einem Mittelplatz. Und das in einer Linie mit vielen weit ärmeren osteuropäischen Ländern, die durch die Sowjetherrschaft zudem eigene Traumatisierungen zu verarbeiten haben. Die Völker der ärmeren westeuropäischen Länder sind hingegen interessanterweise fast durchweg glücklicher als die Deutschen. Ein Indiz?
Auch für den Täter hat die Traumatisierung übrigens Folgen. Er verleugnet die Schädigung anderer Menschen, fühlt sich sogar noch im Recht. Er beschuldigt und verhöhnt das Opfer und gibt an, im Auftrag eines höheren Gedankens gehandelt zu haben. Dieses Verhalten ist wohl oft ein Resultat einer früheren Opferrolle des Täters und eine fehlgeleitete Bewältigungsstrategie. Es führt zu Ergebnissen wie unlängst in Tschechien, als Miloš Zeman mit seiner nationalistischen Abwehrposition die Wahl zum Staatspräsidenten gegen Karel Schwarzenberg gewinnen konnte, der vorsichtig an das historische Leid der Sudetendeutschen erinnert hatte.
Trauern lernen, Mitgefühl für sich selbst entwickeln
Franz Ruppert kommt zu dem Schluß, daß unverarbeitete Opfererfahrungen in eruptiv ausbrechendes Täterverhalten umschlagen können. Auf die Ohnmacht kann ein wütender Ausbruch von Aggression folgen. Aus Opfern werden also Täter, und die Gefühllosigkeit gegenüber sich selbst mündet in die Empfindungslosigkeit gegenüber dem neuen Opfer. Somit werden Opfer-Täter-Spiralen am Laufen gehalten, was sich sowohl zwischenmenschlich als auch in langen politischen Konflikten feststellen läßt. Unschuldige geraten in die Mühlen des Konflikts, es kommt zu Wahn und Akten der Selbstzerstörung.
Nun ist von den Deutschen im gegenwärtigen Zustand noch kein eruptiver Gewaltausbruch zu erwarten. Möglichenfalls kommt von ihnen gar nichts mehr, außer dem letzten Schnaufen auf dem Totenbett. Vielleicht aber kann man doch noch immerhin versuchen, einige Dinge zu heilen. Das würde allerdings eine massive Reform der hiesigen „Gedenkkultur“ erfordern, und diese wird – da darf man sich keine Illusionen machen – auf brutalste Gegenwehr stoßen, da hier der Kern des Traumas liegt, an dem einflußreiche Menschen ein Interesse haben und wohl auch viel verdienen.
Für den Prozeß einer Heilung kann man die individualpsychologischen Lösungsansätze Rupperts also auch auf die nationale Situation übertragen. Zuerst muß man demnach die eigene Traumatisierung und den erlittenen Schaden anerkennen. Man muß auch über sich zu trauern lernen, Mitgefühl für sich selbst entwickeln. Schließlich muß auf blinde Rache verzichtet werden, aber es ist durchaus angemessen, „konkreten Ausgleich für den Schaden vom Täter einzufordern, falls noch möglich“ (Ruppert).
Erst ein Ausgleich kann Heilung bringen
Man kann also ergänzen: Ausgleich, und wenn dies nur aus der Zurücknahme der diskriminierenden Benesch-Dekrete in Tschechien, in der Errichtung von Gedenkstätten für die deutschen Heimatvertriebenen in Tschechien und Polen, in zweisprachigen Ortsschildern und symbolischem materiellen Ausgleich besteht. Und auch erst wenn in London und Washington ein Denkmal für die deutschen Opfer des Bombenkrieges errichtet wird, in Moskau eines für die von Rotgardisten vergewaltigten Frauen und deutschen Gulag-Sklaven wird die falsche, traumatisierte Beziehung der Gegenwart überwunden. Dann erst werden konstruktive symbiotische Beziehungen möglich sein, in denen alle Beteiligten gewinnen können.
Am Ende dieses Prozesses steht für alle Seiten die Wiederfindung der Selbstachtung. Denn auch für den Täter ist die Anerkennung der Verantwortung für die eigenen Taten ein Weg zur inneren Heilung. Das Problem der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ ist schließlich auch nicht die Auseinandersetzung mit den eigenen Untaten, sondern deren Einseitigkeit, die politische Instrumentalisierung und antideutsche Handhabung. Der hier skizzierte Prozeß einer Heilung wurde im Bereich Tschechiens durch die Wahlniederlage Schwarzenbergs vorerst verzögert, aber er wird immer wieder von unten gegen den Sargdeckel klopfen, soviel Erde man auch über ihn schüttet.