Im Frühjahr 1812 stand es um Deutschland wirklich nicht gut. Damals, vor zweihundert Jahren erlebte das Land erstmals eine vollständige Besetzung und Teilung. Das Reich deutscher Nation war nach vielen Jahrhunderten Existenz bereits vor einigen Jahren zerschlagen worden. Der Kaiser hatte die Krone niedergelegt und nannte sich jetzt bloß noch Kaiser von Österreich.
Sein Monarchenkollege aus Berlin hatte zwar seinen Königstitel behalten dürfen, doch war von seinem preußischen Reich ansonsten nicht mehr viel übrig geblieben. Statt dessen reichte Frankreich bis nach Lübeck, und das absolute Sagen im ganzen Land hatte erstmals der Westen, zwar noch nicht der aus Übersee (der sammelte gerade in diesen Tagen seine Kräfte für einen ersten Eroberungsversuch in Kanada), aber doch sein in Paris angesiedelter Teil.
In dieser Lage rief der Kaiser der Franzosen, wie sich das Oberhaupt des revolutionären Frankreich neuerdings nannte, Ende Mai 1812 zum Fürstentag nach Dresden. Napoleon Bonaparte wollte Hof halten, sich noch ein paar schöne Stunden machen – und seine Streitkräfte sichten. Es stand der nächste große Feldzug an, der gegen den russischen Zaren geführt werden und die französische Hegemonie über Europa zementieren sollte.
Franzosen sollten möglichst geschont werden
Es sollte nichts schiefgehen. Napoleon stellte deshalb eine Armee auf, die als die „Große“ in die Geschichte eingehen sollte und für ihre Ernährung zum ersten Mal auf die neue segensreiche Erfindung der Konservenbüchse zurückgriff. Um den gewünschten Umfang der Armee zu erreichen, sollten neben anderen europäischen Kontingenten vor allem die gebeutelten Deutschen noch einmal in sechstelliger Zahl mitmarschieren.
In Polen zeigten sich sogar Spuren von Begeisterung für den Dienst in der Großen Armee, weil man sich in unverbesserlichem Optimismus von einem siegreichen Rußlandfeldzug die polnische Unabhängigkeit versprach. Franzosen sollten dagegen möglichst geschont werden, denn längst hatten die seit fast hundertfünfzig Jahren geführten französischen Angriffskriege die Moral und die Substanz des französischen Volks angegriffen. Die Revolutionäre um Robbespierre hatten sich von dieser kriegerischen Eroberungspraxis nach 1789 zunächst distanziert, aber von Dauer war auch das nicht gewesen.
Nun traten die Reste von deutscher Staatlichkeit und Monarchentum im Mai 1812 also notgedrungen wie befohlen die Reise nach Dresden an. Napoleon wußte wohl, daß das letzte Wort über Deutschlands Schicksal noch nicht gesprochen war. Er versuchte mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche permanent sowohl Loyalität wie Furcht bei den Unterworfenen zu erzeugen, wobei Sachsen in den Genuß von reichlich Zuckerbrot gekommen war. Dresden als Ort des Fürstentags war keine zufällige Wahl. Die Inszenierung dort knüpfte bewußt an die Gepflogenheiten des alten deutschen Reichs an. Jeder mußte anwesend sein, jeder kam.
Vor allem Deutsche fielen in Rußland
Längst war Napoleons Sturz eingefädelt, auch durch Verrat im eigenen Lager. Aber ohne eine militärische Niederlage würde er nicht kommen, und selbst für den Fall des Mißerfolgs in Rußland glaubte sich Napoleon durch die Art der Zusammensetzung seiner Armee gesichert. Er habe in Rußland nichts weiter verloren, ließ er sich später nach seiner Rückkehr vernehmen, als von einigen hunderttausend Mann aus Moskau bloß einige zehntausend zurückkehrten. Es seien bloß Deutsche gewesen.
So war der Rußlandfeldzug von 1812 sowohl eine – im Geschichtsbewußtsein kaum vorhandene – deutsche Katastrophe als auch das bekannte Signal zum nationalen Aufbruch gegen den Bonapartismus. Wie so oft, traf man sich auch hier zweimal im Leben, allerdings nicht mehr in Dresden zum festlichen Ball, sondern ein Jahr später in Leipzig, auf dem Schlachtfeld. Es wurde eine „Völkerschlacht“, aber dann endete doch zunächst wieder alles mit einem tanzenden Fürstenkongreß – diesmal in Wien.