Manche Sätze sind so auf den Punkt gebracht, daß man sie neidvoll zitieren muß: „In Deutschland darf man ja an allem zweifeln, nur nicht an der Möglichkeit, aus jedem Menschen, Zuwendung und Betreuung vorausgesetzt, alles machen zu können. (…) Denn anders als in seinem Ursprungsland, das über den Behaviorismus längst hinaus ist und über die Schrullen dieser pseudowissenschaftlichen Weltanschauung nur noch lacht, hält man in Deutschland an dem Köhlerglauben fest, daß sich der Weg in die lernende, die Bildungs- und Wissensgesellschaft, in der es jedermann nach ganz weit oben bringen kann, irgendwann und irgendwie doch noch finden läßt.“
Das steht im aktuellen Merkur, einer der wenigen echten intellektuellen Hintergrundadressen, an der einen am meisten freut, daß es sie überhaupt noch gibt, weil sie offenbar tatsächlich Leser hat; und geschrieben hat es Konrad Adam, früher Berliner Chefkorrespondent und Kolumnist der Welt, einer der noch humanistisch Gebildeten, die für den halbwissenschaftlichen Murks der „zur Erziehungswissenschaft aufgeputzten Pädagogik“ zu Recht nur noch ein Abwinken übrig haben.
Rationalisierung und Globalisierung
Gern diskutierte ich die Wahrnehmung zweier gegenläufiger, aber wohl komplementärer Entwicklungslinien der Gesellschaft. Die eine liegt in der enormen Effizienzsteigerung der Wirtschaft in all ihren Sparten und Anhangsbereichen. Sie sorgt für die Bereitstellung einer nie dagewesenen permanenten Waren- und Dienstleistungspräsenz, verlangt nach Globalisierung, Einheitseuropa, Einheitswährung, setzt damit zugunsten einer hochqualifizierten und gut verdienenden Spezialistenschicht von Ingenieuren, Juristen, Naturwissenschaftlern und Medizinern eine immer größere „industrielle Reservearmee“ frei, die zu Billigkonsumenten degenerieren, und entsorgt damit gleichzeitig alle regionale Typik und eine früher institutionalisierte Alltagskultur. Die Entwicklung von Post und Bahn zu Turbounternehmen in genau diesem Sinne könnte dafür als symptomatisch gelten.
Insofern sich die offizielle Bundesrepublik nur noch als Standort und möglichst nicht mehr als Nation verstehen möchte, kann die Wirtschaft die Politik weitgehend lobbyistisch gleichgeschaltet und quasi als ihre Serviceagentur betreiben. Weil das als innovatives Betriebssystem der Deutschland AG gilt, braucht’s dafür nicht mal die alte, geradezu klassisch anmutende Korruption, und genau genommen gibt es gar keine Politik als „res publica“ der Bürger mehr, sondern nur noch ein durchgängiges Marketing. Wirtschaft und Finanzen stellen ihre Bedürfnisse durch, Merkel, Sarkozy und Barroso arbeiten dann an deren Erfüllung. Fällt mal einer der Helfer politisch aus, so stellt man ihn generös als Berater – Für was eigentlich? – oder als Faktotum an. Exkanzler Schröder ist ein großkalibriges Beispiel dafür, Siegfried Mappus, der nun für den Pharmakonzern Merck „schafft“, ein kleineres. – Umgekehrt folgt die Politik, von Wahlplakat bis Redegestus, den Präsentationstechniken und der Design-Ästhetik der Wirtschaft.
Gesinnungsethischer Überbau der Leistungsgesellschaft
Über dieser deutschen Wirtschaftswelt, dem Maß aller Dinge, also der sogenannten Leistungsgesellschaft, erhebt sich aber andererseits ein seltsam moralistischer Überbau ethischer Maximalforderungen der Bildungsgerechtigkeiten, Diskriminierungsverbote, der Gleichstellungs-, Nichtraucher- und Lebensmittelkontrollgesetze, etablieren sich Betreuungsindustrie und Hilfestellungsbehörden, die proportional zur wachsenden Umverteilung und Sozialdiskrepanz um so mehr betonen, daß jedem alles möglich sei und allen geholfen würde, und zwar um so mehr, da ja die Talentierung jedes Einzelnen absolut außer Frage stehe. Versagt einer, stürzt einer ab oder steigt einfach als Nichtwähler oder sonstwas aus, dann müsse das System der Bildung und Betreuung ob dieses Verlustes betroffen sein und sich um so mehr mühen, jeden dort abzuholen, wo er steht, obwohl er statistisch gesehen nur noch als Primitivverbraucher von Discountprodukten und Privatfernsehen einen Platz zu behaupten hat.
Daß immer weniger ökonomisch wie politisch von Belang sind, scheint mir damit zu korrespondieren, daß immer mehr getröstet werden sollen. Wo die Wirtschaftsgesellschaft immer härter selektiert, wo Gewinne, die sie macht, immer weniger den Kommunen und allgemein der Kultur zugute kommen, da soll wenigstens die Schule alle, auch Hinz und Kunz und Ahmed und Sergej, in einem Paradiesgärtlein heiler Welt integrieren, ebenso wie Globalisierung politisch ja nur als eine Art sozialistischer Völkerfreundschaft verstanden werden darf und keinesfalls etwa als kapitalistische Einnormierung aller Ressourcen und Barrierefreiheit der Finanzströme.
Bildung als Glücksgarantie
Hauptvehikel in Aussicht gestellter Glücksgarantie soll die „Bildung“ sein, ein Begriff, den man seit den Siebzigern des letzten Jahrhunderts nur noch apostrophiert gebrauchen sollte, ebenso wie beispielsweise den Begriff „Gymnasium“, weil deren Semantik in all der politischen Rhetorik gar nicht mehr klar ist und die verschiedenen lautstarken Diskutanten damit jeweils etwas völlig Unterschiedliches verbinden. Innerhalb der Kultusbürokratie ist nur klar: Das harte Überleben draußen soll in der Schule ein weiches Korrektiv finden. Abstrus.
Konrad Adam meint, bevor die Pädagogik anfängt nachzudenken, müßte der Begriff der Begabung hinreichend klar sein. Begabung? Vielleicht noch Leistungsbereitschaft im Rahmen der immer flächendeckender garantierten Pseudoabschlüsse und -titel? Das ist für die Politik gar keine Frage, sondern allenfalls eine rechte, ewiggestrige Provokation. Begabt ist natürlich jeder. Was für eine wohlfeile Auffassung.