Was haben öffentliche Debatten gemeinsam? Daß sie vom Wesentlichen ablenken.
Was für Publizität sorgt, ist in 80 Prozent aller Fälle belanglos oder wird bloß an seiner banalsten Seite breitgetreten. Darin sind sich Politik und Kultur beängstigend ähnlich.
„Das ist doch das Traurige an diesen (öffentlichen) Figuren, daß sie gerade nicht von wichtigen Dingen reden können, sondern nur über Unwichtiges und immer aneinander vorbei“, begriff der Kabarettist Josef Hader. Das fällt beim Rückblick aufs Vergangene freilich leichter auf als in der Gegenwart. Wer würde zum Beispiel Dietrich Fischer-Dieskaus minutiöse Studie über „Goethe als Intendant“ (2006) in Weimar ohne Anflug von Widerwillen lesen: Die abertausend Belanglosigkeiten, die vor 200 Jahren für Debatte und gesellschaftlichen Skandal sorgten, dürften selbst blindeste Nostalgiker therapieren.
Und heute? Wie werden künftige Generation urteilen, wenn sie lesen, daß 2010 – im Zeitalter globaler Wirtschaftskrise, drohender Umweltkatastrophen und metaphysischer Verlorenheit – eine evangelische Bischöfin wegen Trunkenheit am Steuer zurücktrat? Oder daß Politiker nicht aufgrund professionellen Versagens, sondern wegen öffentlich abgelassener Hirnfürze und geringfügiger Korruption ins Kreuzfeuer der Kritik gelangten? So erhitzt Guido Westerwelles politische Unfähigkeit weniger als seine vetternwirtschaftlich orientierte Auswahl an Reisebegleitern. Erst die ausreichende Banalität der Ursache macht den Furor entfesselungsfähig.
Literarisches Sauerbier
Wechseln wir in die Kultur: Vor wenigen Wochen fand die Leipziger Buchmesse 2010 statt. Dort präsentierten Schriftsteller wie Günter Grass, Christa Wolf und Erich Loest ihr Manifest gegen literarische Plagiate – natürlich „im Interesse der Autoren“. Klar, Plagiieren ist nicht die feine Art, aber in Anbetracht der lächerlichen Honorare, die selbst große Publikumsverlage ihren Buchautoren zahlen, ist jedem klar: Der Diebstahl beginnt nicht erst beim „Plagiat“.
Anstatt die finanzielle Geringschätzung geistiger Arbeit zu thematisieren, klagt man lieber über das kleinere Übel. Oder gärt hinter diesem Zombie-Manifest nur der heimliche Groll vergessener Altschreiber – darüber, daß niemand ihr literarisches Sauerbier plagiieren mag? Daß keiner auch nur eine Zeile Grass, Wolf oder Loest abschreibt? Diebstahl setzt nämlich Interesse an der Beute voraus. Nur, was geht uns das an? Noch verfehlter erscheint das Grass-Wolf-Loest-Manifest vor dem Hintergrund aller saftlosen Neuerscheinungen der Buchmesse.
Preisfrage: Wie hieß doch gleich der Leipziger Literaturpreisträger 2010? Schon vergessen? (Auflösung: Es war Georg Klein. Wie, den kennen Sie nicht?) Man hätte besser die Ödnis aktueller Literaturlandschaft debattiert. Aber auch in anderen Branchen ist diskursive Ablenkung dringend erwünscht. Man erinnere an die diesjährige Berlinale. Wie viele erwähnenswerte Filme wurden dort geboten? Maximal zwei bis drei. Beim Musical „Nine“ kamen nicht mal mehr Stars und Regisseur zur Premiere. Sie wußten warum. Aber das machte nichts, statt dessen honorierten zahlreiche Zeitungen die „reibungslose Organisation“ des Festivals; dagegen ist das Programm doch sekundär.
Ablenken von der Last des Realen
Und keine Angst, der nächste Schrecken kommt bestimmt. Genauer, am 7. Mai, beim Berliner Theaterteffen. Dessen „unabhängige“ Jury hat bei der Programmauswahl wahre Heldentaten vollbracht. Eingeladen wurden nämlich fast nur Werke von Alt-Langweilern wie Stephan Kimmig, Andreas Kriegenburg, Luk Perceval, Nicolas Stemann und natürlich Christoph Marthaler. Der ist bereits zum 14. Mal dabei. Schon damit beweist die Jury ihre jugendliche Entdeckungsfreudigkeit, ihren ungebrochenen Mut zum Wagnis. Und wer weiß, vielleicht steht diesmal die Druckqualität von Programmheften im Mittelpunkt der Publikumsdiskussion?
Nein, öffentliche Diskurse haben nicht die Funktion, einen Mißstand zu beheben. Vielmehr verschieben sie das Unbehagen an einer als fatal erlebten Welt auf das Bewältigungsniveau geistiger Tiefflieger. Die Medien degradieren sich damit zu einer „Entlastungs-Institution“ (Arnold Gehlen). Sollte die Aufgabe von „Kultur“ tatsächlich im Ablenken von der Last des Realen bestehen, dann leben wir zweifellos in einer „Hochkultur“.