Mir ist noch gut ein Gespräch in Erinnerung, das ich vor vielen Jahren mit einem älteren Bekannten führte. Es war am Rand eines geselligen Kreises in der Vorweihnachtszeit, und irgendwie kam die Rede auf die Art, in der man Heiligabend und die anschließenden Feiertage begehen wollte. Also sprach ich von den Vorbereitungen meines Chors und der Hoffnung auf eine gute Predigt in meiner Kirche, während mein Gegenüber mit leicht spöttischer Miene meinte, daß er auch da sein werde, wir uns aber kaum sehen dürften.
Etwas irritiert fragte ich nach und erhielt zur Antwort: „Ich gehöre nicht zu den U-Boot-Christen, die einmal pro Jahr im Gottesdienst auftauchen, bin längst aus der Kirche ausgetreten und werde bei solcher Gelegenheit nicht so tun, als ob ich etwas glaubte, das ich nicht glaube. Die Kinder sind groß und aus dem Haus, Enkel haben wir keine, da beschränken wir die Bescherung auf ein paar Bücher oder Schallplatten, essen etwas Gutes und trinken eine besondere Flasche Wein. Und dann machen meine Frau und ich am Heiligabend einen nächtlichen Spaziergang durch die Stadt, und wir freuen uns an den hellerleuchteten Fenstern und stellen uns die Menschen vor, die ihre Geschenke auspacken und gemeinsam feiern, und zuletzt gehen wir um die Kirche herum, und ja, es berührt uns, wenn wir die alten Lieder und die Orgel hören und etwas von dem festlichen Glanz sehen.“
„Frömmigkeit“ verschwindet aus unserem Sprachgebrauch
Mein Gegenüber war ein kultivierter Mann, Naturwissenschaftler mit musischen Neigungen, und ich gab meine Bemühungen rasch auf, ihm klarzumachen, daß etwas fehle in seiner Weise, Weihnachten zu begehen. Religion ist immer ein heikles Thema bei Tischgesprächen, und ich hätte ihn kaum überzeugt; mehr noch, mir war klar, daß in dem, was er dachte und empfand, etwas war, das man als Frömmigkeitsrest bezeichnen könnte, an den man besser nicht rührte.
„Frömmigkeit“ ist ein Wort, das aus unserem Sprachgebrauch verschwindet, was wohl damit zusammenhängt, daß die Sache verschwindet. Das wird in der Advents- und Weihnachtszeit besonders deutlich, weil da in der Vergangenheit das Fromm-Sein eine große Rolle spielte, für die Fragen des Nikolaus an die Kinder ebenso wie für die Liedertexte und die Gestimmtheit der Menschen. Solche Frömmigkeit hat in Deutschland eine besondere Prägung erfahren und Bedeutung erlangt, weil sie mit einem Zweiten zusammenhängt, das man „Innerlichkeit“ nennt.
Zwiesprache mit Gott
Das eine wie das andere hat seinen Ursprung im mächtigen Unterstrom der mittelalterlichen Mystik, als ein Meister Eckehart schrieb: „Wo der Mensch Gott von draußen holt und hernimmt, der hat das Rechte nicht. Man soll Gott nicht außer sich suchen oder wähnen, sondern ihn nehmen, wie er mein eigen und in mir ist!“ Noch deutlicher: „Manche einfältige Leute wähnen, sie müßten Gott sehen, als stünde er da und sie hier. Das gibt es nicht! Gott und ich, wir sind eins im Erkennen. Und ebenso, ziehe ich Gott in mich in der Liebe, so gehe ich in Gott ein!“ >>
Mystik zielt auf Verschmelzung mit Gott, ein Gedanke, der im Christentum auf Vorbehalte stößt, aber doch die deutsche Glaubensweise immer beeinflußt hat wie sonst nur noch Reformation und Pietismus. Dem vor allem ging es um die Bildung des Menschen zu Frömmigkeit und Innerlichkeit, also einer konzentrierten Glaubenshaltung, die in der Zwiesprache mit Gott lebt. Viel von dem, was man als typisch deutsche Mentalität empfand, hatte damit zu tun, auch und gerade, als mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts und dem Bedeutungsverlust des Christentums eine Versetzung in den weltlichen Bereich stattfand. Von der Romantik über das zu Unrecht gescholtene Biedermeier bis zur „Weltfrömmigkeit“ des Bürgers der Industriezeit blieb etwas, das sich dem modernen Lebensstil gegenüber sperrte und zum Schutz des seelischen Vorbehalts beitrug.
Und Weihnachten war Gelegenheit, dem Ausdruck zu verleihen. Daher der deutsche Stil des Feierns, das Familiäre, die „Besinnlichkeit“ des Advents, die Pflege ganz bestimmter Bräuche und vor allem der Klang der Weihnachtslieder. Die „deutsche Weihnacht“ gehörte zu dem Wenigen an kulturellen Äußerungen unseres Volkes, das auch jenseits der Grenzen – gerade wegen seiner Fremdheit – als anziehend empfunden wurde. Weihnachtsbäume sind mittlerweile ein globales Phänomen, und „Stille Nacht“ dürfte in alle verbreiteten Sprachen übersetzt sein. Aber das bleiben Äußerlichkeiten – was die Deutschen daran hatten und haben, dürfte anderen kaum je ganz zugänglich sein.
Zur Ruhe kommen und Verhältnisse neu bedenken
Deshalb muß es Besorgnis erregen, wenn sich auch uns der Zugang zu verschließen droht. Gemeint ist gar nicht so sehr der große Konsumrausch oder die Menge an Geschmacklosigkeiten in der Festtagsdekoration, gemeint ist aber der Siegeszug des Lauten und Grellen, die Ununterscheidbarkeit von Heiligabend und Silvester, die Neigung zum Trubel, dem man sich nur fast gewaltsam entziehen kann – und selbst der Gottesdienst bietet keine sichere Zuflucht.
Was damit verlorengeht, ist eben Frömmigkeit, etwas, das hinter dem Weihnachtsevangelium und den genuin christlichen Aussagen liegt, eine Grundschicht von Gefühl und Weltwahrnehmung. Das ist so übel, weil damit auch gefährdet wird, was überhaupt zu unserem Mensch-Sein gehört, weil es die Möglichkeit gibt, zur Ruhe zu kommen und Verhältnisse neu zu bedenken und durchzuordnen, bevor wir in den Alltag zurückkehren.
Es geht damit ein besonderer Nutzen der Frömmigkeit verloren – und seinem ursprünglichen Sinn nach heißt „fromm“ nichts anderes als „nützlich“. Es ist kein zutage liegender Nutzen, keiner, der sich ökonomisch auszahlt, es ist ein besonderer Nutzen, der der Stille und der Einkehr, vor allem in den Weihnachten, in denen die Zeit („zwischen den Jahren“) wie stehengeblieben scheint und der Mensch zu sich selbst – und wenn es gutgeht, zu Gott – kommen kann.
JF 52-53/09