Auf den Filmfestspielen von Cannes, wo der jetzt bei uns unter viel Lobgeschrei angelaufene Film „Antichrist“ des dänischen Regisseurs Lars von Trier zuerst öffentlich gezeigt wurde (und wo er überwiegend auf Ablehnung stieß), meinte ein Spontankritiker: „Das war ein absichtlich mißlungenes Ding. So etwas sollte man eigentlich nicht machen dürfen.“
Was passiert? Einem sich heftig liebenden Ehepaar stürzt sein kleines Söhnchen aus dem Fenster und stirbt. Die Frau verfällt darüber in Angststarre, und ihr Mann, ein gelernter Psychotherapeut, möchte sie selbst heilen und bringt sie in eine einsame Waldhütte, um dort die segensreichen Kräfte der freien Natur auf sie einwirken zu lassen. Aber siehe, die Frau wird darüber selber zur Natur, und das heißt in diesem Film: zur zähnefletschenden Bestie, zur bösen, grauenerregenden Hexe und Teufelsbraut. Sie zeigt „ihr wahres Gesicht“.
Einst hat sie eine Doktorarbeit über die Hexenverbrennungen in der europäischen Frühen Neuzeit geschrieben und den Hexenglauben dabei gründlich als Ausdruck mittelalterlichen Aberglaubens und mörderischen Männerwahns entlarvt. Nun kommt heraus, daß das alles bewußte Lüge war. Es gibt die Hexen wirklich, und sie, die Top-Feministin, ist eine von ihnen.
Ihr Söhnchen ist nicht zufällig abgestürzt, sondern wurde von ihr durch subtile Folterungen absichtlich in den Tod getrieben. Ihre Trauer- und Angststarre war Tünche, ihr von der Zivilisation und von der Wissenschaft auferlegt. Der Aufenthalt in der freien Natur läßt diese Tünche abblättern, so daß die originäre Bosheit der Frau voll und unverdeckt hervortritt. Denn die Natur, so die Botschaft Triers, ist der Schoß und Urgrund alles Bösen. Sie ist Schlamm, gnadenloses Fressen und Gefressenwerden, mit einem Wort: Teufel, Antichrist.
Zur horriblen Story tritt die horrible Art, wie sie vom Regisseur ins Bild gesetzt wird. Trier erzählt nicht einfach (obwohl er sich in seinen filmtheoretischen Verlautbarungen gern als schlichter, „streng realistischer“ Erzähler ohne alle technischen Tricks anpreist), sondern er stellt nur dauernd aus, zoomt heran, zerhackt oder dehnt die Szenen künstlich aus, mischt grelle Symbole dazwischen. Und all der technische Aufwand dient immer nur dem einen: der unmittelbaren, kommentarlosen Vergegenwärtigung des absolut Bösen, des Schreckens und des Ekels, des Brutalen und blind Gewalttätigen. Man fühlt sich streckenweise wie im übelsten Splatter-Machwerk.
Das war es wohl, was der Spontankritiker in Cannes mit „absichtlicher Mißlungenheit“ meinte. Das Böse, Gemeine und Ekelhafte ist natürlich das Mißlungene, es läßt sich – auch und gerade in der Kunst – nur im Status der Kritik, der Ablehnung und Überwindung ertragen. Trier aber kritisiert nicht und will auch nichts überwinden, er läßt nicht einmal Verzweiflung angesichts all der von ihm imaginierten Scheußlichkeiten spüren. Der Effekt beim philosophisch uninteressierten Kinobesucher ist – aller deutschen Rezensentenbegeisterung zum Trotz – Verdrießlichkeit und Langeweile. Wer möchte sich schon freiwillig anderthalb Stunden lang ekeln!
Philosophisch betrachtet freilich fordert der Streifen zu mancherlei Überlegung heraus. Ist die freie, ungezähmte Natur denn wirklich der leibhaftige Antichrist? Viele berühmte Kirchenväter haben dieser Auffassung ja angehangen. Sie mißtrauten ihr als einem Apeiron, d.h. einem wüsten Chaos aus bösen Antrieben und allen möglichen Versuchungen, das zuerst einmal durch den durch Christus inspirierten Geist eingehegt und gewissermaßen ertragbar gemacht werden mußte.
Am Beginn der Neuzeit, mit der sogenannten „technischen Revolution“, breitete sich offiziell eine nicht weniger scharfe Naturfeindschaft aus. Man wollte da, wie zum Beispiel Francis Bacon oder René Descartes propagierten, die Natur im Namen der Vernunft „unterwerfen“, ihr „die Zähne ziehen“, sie in den Schwitzkasten des Experiments nehmen, einerlei ob es sich dabei um Gesteinsproben, Tiere oder „primitive“ Menschen handelte. „Versuchsanordnungen“ wurden eingerichtet, um der Natur „auch noch ihr letztes Geheimnis zu entreißen“.
Künstler und Poeten allerdings, auch Filmregisseure, standen zu dieser gleichsam offiziellen Meinung ständig in Opposition. Die Natur ist unser Freund, mahnten sie, sie wärmt uns, erquickt unsere Sinne, beflügelt unseren Geist. Heinrich Brockes, der dichtende hanseatische Schöngeist des 18. Jahrhunderts, pries sie geradezu als Vorhof Gottes und Medium allerhöchster Aufklärung. „Aufklärung heißt der Weg, den die Natur uns weiset; / Wir streben hin zu Gott, den jedes Wesen preiset“. So dichtete er im Jahre 1727 in seinem Gedichtband „Irdisches Vergnügen in Gott“, und in seiner Spur entfaltete sich alsbald eine ganze große, ausschließlich enthusiastisch zirpende Naturlyrik.
Reich des Bösen – Irdisches Vergnügen in Gott: In dieser Spannung steht tatsächlich unser Verhältnis zur Natur, stand es von Anfang an und wird es immer stehen. Pankraz hat schon viel darüber geschrieben. Mit der Natur grundsätzlich zu hadern und sie von oben bis unten zu verteufeln, ist sinnlos und verschafft einem lediglich unerquickliche Kinobesuche. Jeder abendliche Fernsehfilm mit spielenden Fuchskindern oder beutemachenden Seeadlern ist besser und auch philosophischer als der Film „Antichrist“ des Lars von Trier.
Auch die dort à la Strindberg wieder aufgewärmte Mär von der „Naturverfallenheit des Weibes“ und der daraus erwachsenden „teuflischen Umtriebe von Weiberseite“ ist nichts als höherer Blödsinn. Unsere Gender-Mainstream-Prophetinnen und um sich tretenden Tatort-Kommissarinnen mögen schlimm und lächerlich sein – leibhaftige Hexen sind sie nicht, und sie müssen auch nicht verbrannt, höchstens endlich einmal richtig belacht werden. Zur künstlerischen Bewältigung der Geschlechterfrage brauchen wir keinen neuen Strindberg, sondern einen neuen Aristophanes („Lysistrata“) oder einen neuen Molière („Die gelehrten Frauen“).