Als Herbert George Wells, lange die prominenteste Stimme Englands im europäischen und transatlantischen Austausch politischer Ideen, am 13. August 1946 starb, hatte der Zweite Weltkrieg seinen Horizont verdüstert. Sechzig Jahre später besteht zwar für den Optimismus, der Wells an sich kennzeichnet, kein besonderer Anlaß, doch sein ebenso umfangreiches wie vielschichtiges Œuvre ist überaus aktuell, sogar – neudeutsch gesprochen – zukunftsfähig. Diese Aktualität beruht auf der Wells‘ Schaffen von Anfang an prägenden Symbiose von literarischer Imagination und gesellschaftsrelevantem Räsonnement.
Am 21. September 1866 im hochviktorianischen England in bescheidensten Verhältnissen geboren, wurde er zum scharfen Kritiker des in jeder Hinsicht als beengend empfundenen Viktorianismus. Mit sogenannten wissenschaftlichen Märchen wie "The Time Machine" (1895), "The War of the Worlds" (1898) und "The First Men in the Moon" (1901) rückte Wells, der sich zugleich als Pionier der modernen Science Fiction etablierte, sofort in die erste Reihe zeitgenössischer englischer Schriftsteller. Sein nach gesellschaftlichen Eventualeffekten tastendes Sensorium entbehrte dabei keineswegs einer skeptisch-pessimistischen Komponente. Bereits in dieser provinzielle Denkgewohnheiten herausfordernden Werkgruppe wirft Wells die Kardinalfrage auf, die zum Kompaß seiner literarischen Lebensarbeit werden sollte: Was ist der Mensch, wozu ist er berufen?
In unterschiedlich stringenter Anknüpfung an den jeweiligen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften evoziert Wells eine soziale Virtualität, deren Denkanstöße gerade in unserer wissenschaftlich-technologisch ausgerichteten Welt, der beispielsweise die Raumfahrt längst zur selbstverständlichen Erfahrung geworden ist, zeitgerecht rezipierbar sind.
Der gesellschaftliche Zielpunkt aller Wellsschen Spekulationen über die Zukunft der Spezies Mensch wird bereits in "The Time Machine" sichtbar. In dieser mythopoetisch dichten Erzählung entwirft Wells unter Orientierung an Thomas Henry Huxley, dem Propagandisten Darwins, ein Szenario negativer Evolution und projiziert die menschliche Entwicklung in das sinistre Jahr 802701. Der Fernblick soll den Nahblick schärfen. Die Polarisierung zwischen Eloi, den anmutig-dekadenten Oberweltlern, und Morlocks, den physisch abstoßenden und verrohten Unterweltlern, ist Wells‘ szientifische Fortschreibung von Disraelis sozialkritischem Konzept der zwei Nationen unter Zugrundelegung fortgesetzten Klassenkampfes zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Die Nemesis in Gestalt der ihre einstigen Gebieter verzehrenden Morlocks birgt Zündstoff für die Gegenwart in Anbetracht der sich beschleunigenden, weltweiten Aufspaltung in Arme und Reiche mit der Dritten Welt als unheilschwanger tickender Zeitbombe.
Schneisen, um die Macht der Vergangenheit zu brechen
In "The War of the Worlds", wo insulare Selbstgefälligkeit unterminiert wird – England wird in Umkehrung vertrauter Erwartungen die Rolle eines kolonialisierten Landes zugewiesen -, verwandeln die roboterhaften Invasoren vom Mars mit ihren Hitzestrahlen idyllische südenglische Landstriche in eine apokalyptische, alptraumhaft-surrealistisch gezeichnete Landschaft. Die Rückwirkung der Wellsschen Imagination auf die Wirklichkeit konnte man übrigens nicht ohne Beklemmung 1938 studieren, als die den örtlichen Gegebenheiten angepaßte Hörspielfassung von Orson Welles in Amerika eine Massenpanik auslöste. Wells‘ Warnung vor anthropozentrischer Überheblichkeit bleibt angesichts der Möglichkeit einer prekären Positionierung des Menschen im Universum in den heutigen Denkhorizont integrierbar.
Seine zeitlich wie räumlich weitläufige Vorstellungskraft bestimmte Wells‘ Aussagewillen in verschiedenartigen Medien. In der neues generisches Terrain absteckenden, im Jahr 2100 angesiedelten und globale Tendenzen registrierenden utopischen Erzählung "When the Sleeper Wakes" (1899) wird ebenfalls die Dichotomie in Ober- und Unterklassen, in moralisch-sittlich indifferente Plutokraten und die sich zu einer eigenen biologischen Art entwickelnde, geistig verkümmerte und auf Orwells proles vorausweisende Arbeiterschaft an den Problemhorizont der Zukunft geschrieben. In diesem Buch wird auch das weitgehende, sich heute bereits deutlich abzeichnende und die soziale Spaltung vorantreibende Wegbrechen der klassischen Mittelschicht prognostiziert. Mit ihrer Zurückdrängung geht die augenblicklich noch viel zu wenig als gesellschaftliches Problem erkannte, offenbar dem Sozialismus abgeguckte Entpersönlichung der Kinderbetreuung in staatlichen Krippen einher.
Ein ominöses Glanzstück von "When the Sleeper Wakes" stellt die Schilderung der Reklame dar, die mit ihrer Allgegenwart das gesamte Leben überwuchert. Später hat Wells mit "Tono-Bungay" (1909) der Werbung als Mitte der modernen Welt sogar einen ganzen, nach einer Schwindelmedizin benannten Roman gewidmet. Kein anderer Autor hat mit vergleichbarer Witterung die Allmacht der Reklame und deren depravierende Auswirkungen in der Zukunftsgesellschaft so frühzeitig und klarsichtig diagnostiziert wie Wells, dessen Aldous Huxley darin ebenbürtiges kulturkritisches Potential wahrzunehmen sich lohnt.
Seine Visionen kommender Gesellschaftsentwicklung vertraute Wells seit der Jahrhundertwende auch gern der geschmeidigen Form des Essays an. Als Futurologe großen Stils hat er sich immer wieder bemüht, Schneisen für die Ortung der Zukunft zu schlagen, um der Vergangenheit ihre den Fortschritt hemmende mentale Verfügungsgewalt zu entreißen. Das Zeitalter der Weltkriege mit ihrer totalen Kriegführung war in seinen Vorstellungen früh präsent; während er in "When the Sleeper Wakes" die künftig entscheidende Rolle der Luftwaffe im wesentlichen richtig konzipiert, sieht er in "The World Set Free" (1914) den Atombombenkrieg voraus. Wie leicht seine rational-imaginativen Experimente selbst bei scheinbarer Verstiegenheit den Nerv unserer Zeit treffen können, mag die Kurzgeschichte "The Stolen Bacillus" (1894) veranschaulichen, in der Bakterien terroristischen Anschlägen dienen.
Mit seinen das Künftige stärker aus soziologischer Warte anpeilenden Essays suchte Wells das Thema der technologisch indizierten Globalisierung – der Begriff war um 1900 noch unbekannt – dem öffentlichen Bewußtsein nahezubringen. Dieses heute in vieler Hinsicht als bedrohlich empfundene Phänomen wird von Wells primär als Chance für Ansätze zu großzügigerer Gesellschaftsplanung begriffen. Ob er allerdings das erdumspannende, unter Umständen politischer Information dienliche, aber geschwürartig wuchernde Internet mit seiner Degradierung eines anspruchsvollen Konzepts von Öffentlichkeit als Instrument gesellschaftlicher Bewußtseinserweiterung begrüßt hätte, darf man trotz gewisser aufklärerischer Effekte des neuen Kommunikationsmittels bezweifeln.
Eugenische Maßnahmen zur Hebung des Niveaus
Wells‘ global ausgerichtete Essays erlauben ohne Gewaltsamkeit einen Brückenschlag vom Beginn des 20. zum Beginn des 21. Jahrhunderts. In "Anticipations" (1900) geht er von der rasanten Beschleunigung des Entfernungen überwindenden Verkehrs aus, deren Vorgaben die Politik sich nicht entziehen könne, und erwartet eine mobile, sogar zunehmend in Migration befindliche, in ausgedehnte urbane Regionen drängende Bevölkerung. Die von der Ökonomie schon vorgezeichneten Tendenzen zur Aufhebung traditioneller Isolierung und somit zu makrosozialem Zusammenschluß verfolgt Wells bis zu dem von ihm anvisierten Endstadium, dem in Winwood Reades "The Martyrdom of Man" (1872) für einen Augenblick aufleuchtenden Weltstaat als eigentlicher Bestimmung der Menschheit. Nur so, durch Überwinden nationaler Egoismen, erschien ihm die Zukunft politisch zu meistern.
Dabei weist er als englischer Patriot mit unorthodoxen imperialistischen Sympathien gleichwohl seiner eigenen Nation über panangelsächsische, auf Verbindung mit den Vereinigten Staaten zielende Bestrebungen eine privilegierte Rolle zu. Im Rahmen dieser Zukunftsüberlegungen sagt er übrigens in "Anticipations" die ökonomische Ballung Westeuropas zu einem der späteren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entsprechenden, um die rheinisch-niederländische Region konzentrierten Industriegebiet voraus.
Die ihn antreibende Weltstaatsidee, die auch in "The Discovery of the Future" (1902) verheißungsvoll aufscheint, hat Wells in "Mankind in the Making" (1903) und in fiktionalem Gewand in "A Modern Utopia" (1905) sogleich weiterverfolgt. Sie ist buchstäblich das Herzstück seines lebenslangen Strebens nach rationaler Politikgestaltung. In allen seinen Werken läßt der nominelle Sozialist Wells übrigens die Welteinheit durch Intervention von oben zustande kommen und überträgt die Staatsgeschäfte einer funktionalen, naturwissenschaftlich geschulten Elite, die letztlich ein Regieren traditioneller Art überflüssig machen soll. Dieses Endstadium ist in einer weiteren Utopie, "Men Like Gods" (1923), erreicht. Die Kombination von Vertrauen in globale Gesellschaftsplanung und Vertrauen in die Technik als Motor unaufhaltsamen Fortschritts brachte es mit sich, daß Wells trotz Eintrübung der mentalitätsgeschichtlichen Großwetterlage noch positive Utopien zu schreiben vermochte, deren optimistische Grundhaltung zur Hauptzielscheibe von Antiutopisten wie Aldous Huxley und Orwell wurde.
Obwohl er in "The Island of Doctor Moreau" (1896) – dessen mit nietzscheanischen Zügen ausgestatteter und die Grenzen menschlicher Identität auslotender Protagonist aus Tieren Menschen züchtet, die ihren Schöpfer vernichten – vor wissenschaftlicher Hybris gewarnt hatte, faßt der von sozialdarwinistischem Gedankengut beeinflußte und den unteren englischen Klassen ähnlich unsentimental wie G.B. Shaw gegenübertretende Autor sowohl in "Anticipations" als auch in "Mankind in the Making" robuste eugenische Maßnahmen zur Hebung des geistigen und körperlichen Niveaus der Weltbevölkerung ins Auge. Den ambivalenten Horizont der heutigen Gentechnologie nimmt Wells‘ Werk vorweg; auch in diesem Zwiespalt kann er als unser Zeitgenosse verstanden werden.
Nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges ist er um so leidenschaftlicher als Propagandist des Weltstaats hervorgetreten. Das Zerstörungsfanal des Weltbrandes drängte ihn zur Anspannung seiner publizistischen Kräfte. Diesem Werbefeldzug hat er auch seinen künstlerischen Ehrgeiz geopfert. Freilich hat Wells im Grunde immer als Publizist gewirkt, denn auch in den Science -iction-Werken seiner Anfänge ging es ihm nie um die Demonstration des technisch Möglichen um seiner selbst willen, sondern bereits – darin verwegener als der sich im wesentlichen auf Extrapolation beschränkende, mehr pragmatisch fabulierende und an gesellschaftlichen Fragen weniger interessierte Jules Verne – um das proleptische Aufspüren etwaiger anthropologisch-gesellschaftlicher Implikationen der wissenschaftlichen Triebkräfte. Die Verbreitung seiner beherrschenden Idee erschien ihm alternativlos, um die seiner – keineswegs subjektiven – Auffassung nach gerade in den internationalen Beziehungen waltende Anomie Durkheimscher Wortprägung zu überwinden.
Keinen anderen Autor haben die damals bereits behutsam aufkeimenden Tendenzen zu einer weltumspannenden Zivilisation so beflügelt wie den Agnostiker Wells, der mit geradezu religiöser Inbrunst ein ums andere Mal zum Niederreißen überkommener Schranken aufrief. Im Rahmen seiner globales Denken anmahnenden Aufklärungskampagne verfaßte Wells auch enzyklopädisch-didaktische Werke wie die historiographische Sonderinteressen verabschiedende und später sogar von dem Historiker A.J.P. Taylor gelobte "Outline of History" (1920). Der Appell zu globalem Zusammenwirken steht ja nach wie vor als regulatives Postulat auf der politischen Tagesordnung, und der heutigen Maxime, daß alle traditionelle Außen- und Militärpolitik durch Weltinnenpolitik abzulösen sei, hat Wells beharrlich vorgearbeitet.
Vorarbeit für die Maxime einer Weltinnenpolitik
Von den zaghaften und verlogenen Ansätzen des Völkerbundes enttäuscht, setzte sich der stets ungeduldige und von dem schwärmerischen Gedanken einer offenen Verschwörung erfüllte Wells als trotziger und unbeirrbarer Widerpart zu zwischenstaatlichem Traditionalismus in Szene und forderte beispielsweise in "The Shape of Things to Come" (1933) die Installierung einer Elite, die als globale intellektuelle Schaltzentrale fungieren und die künstliche Evolution zur Ordnung der menschlichen Angelegenheiten in die Hand nehmen soll.
Seine hyperbolische Rolle als selbsternanntes Weltgehirn darf man heute als missionarische Überspanntheit belächeln, doch seine Stimme als Weltbürger und unermüdlicher Anwalt des Weltstaats, dessen Plädoyer an Evidenz nichts eingebüßt hat, braucht deswegen nicht überhört zu werden. Als politisch und sozial engagierter Autor hat Wells in großem Stil rationale Gesellschaftsplanung betrieben, wie sie besonders in der Zeit zwischen den Weltkriegen hoch im Kurs stand. So wurde er zum Exponenten der bezwingenden, aber bis heute der Realisierung harrenden Weltstaatsidee, ohne deren Umsetzung die Zukunft auch weiterhin nicht gesichert ist. Das gegenwärtige Zeitalter der Globalisierung mit seinem gewaltigen Veränderungspotential hat seinen diskursiven Vorlauf in Wells‘ Werk. Wells, der sich gesellschaftlichen Problemen stets in weltumspannender, kosmopolitischer Optik näherte, ist als Literat der Globalisierung im Sinne weltweiter Bewußtseinsbildung unser Zeitgenosse. Mochte er mit "Mind at the End of its Tether" (1945) seinen persönlichen Schlußpunkt erreicht haben, die lohnende Beschäftigung mit seinem Werk ist noch lange nicht zu Ende.
Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock lehrte Neuere englische Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen.
Preiswerte Lektüre
Die meisten deutschen Übersetzungen von H.G. Wells sind als dtv-Taschenbuch erhältlich, darunter "Die Zeitmaschine", "Die Insel des Dr. Moreau", "Wenn der Schläfer erwacht", "Tongo-Bungay" und "Von kommenden Tagen". Bei Diogenes sind erschienen "Krieg der Welten" und der Sammelband "Meistererzählungen" unter anderem mit der Geschichte "Der gestohlene Bazillus".