Für Washington und seine Verbündeten gibt es ein neues, größeres Feindbild im „Krieg gegen den Terror“: Die Kampfzone am Hindukusch weitet sich von auf Afghanistan auf das Nachbarland Pakistan aus – ein 170-Millionen-Einwohner-Land mit Atomwaffen, das zunehmend im Chaos versinkt. Die Taliban kontrollieren den Süden Afghanistans, sie stehen vor Kabul und zeigen im Norden Präsenz. Siegessicher kündigten sie an, landesweit in die Offensive gehen zu wollen.
Gleichzeitig zeigen die pakistanischen Taliban ihre zunehmende Gefährlichkeit: Es sieht so aus, daß sich die staatliche Macht im Vielvölkerstaat Pakistan in atemberaubendem Tempo auflöst. Seit Jahren ist zu beobachten, daß nicht nur die radikalen Islamisten, die in Armee und Geheimdienst auf weitverbreitete Sympathien treffen, immer stärker werden, sondern daß das ganze Land auseinanderdriftet. Die Belutschen im Westen wollen unabhängig werden, die Menschen in der südöstlichen Hafenmetropole Karatschi stammen meist aus dem indischen Bombay (Mumbai) und sind mit Islamabad unzufrieden. Teile des 1947 geteilten Punjab möchten eigentlich mit Indien wiedervereinigt werden.
Der starke Präsident Pervez Musharraf hatte wie ein Militärdiktator diese zentrifugalen Kräfte zusammenhalten können. Mit seiner Entscheidung, sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 an die Seite der USA zu stellen, hatte sich der Ex-General das Wohlwollen des Westens und dringend benötigte Milliardenhilfen gesichert – aber auch den Zorn islamistischer Extremisten auf sich gezogen. Sie vor allem sind die aktuelle existentielle Bedrohung für den maroden Staat. Die Politik des derzeitigen Präsidenten Asif Ali Zardari hingegen läßt Schwäche und Konzeptionslosigkeit erkennen. Seit Monaten überläßt er den Radikalen ganze Regionen (JF 10/09), in anderen Gebieten eskalieren die Kämpfe zwischen der nur halbherzig engagierten Armee und den pakistanischen Taliban. Ähnlich wie ihre Gesinnungsgenossen in Afghanistan sind auch sie ein unberechenbares Konglomerat aus vormodernen islamistischen Fanatikern, feudalistischen Stammesführern und paschtunischen Nationalisten, zu deren Zielen auch die Vereinigung mit ihren Brüdern in Afghanistan gehört.
Nimmt man alles zusammen, baut sich ein Horrorszenario auf: Ein instabiles, aber strategisch wichtiges Land, das Atomwaffen besitzt, könnte von seinem inneren Feind – Fundamentalisten, Terroristen, Amerika-Hassern – übernommen werden. Der Alptraum: Sie würden dann über ein Nukleararsenal verfügen, mit dem sie dem Westen ihre Bedingungen diktieren könnten. Aus Sicht von US-Politikern könnte diese Gefahr durchaus real werden. Die Extremisten fordern den pakistanischen Staat inzwischen offen heraus. Die Möglichkeit, daß Atomwaffen in die Hände von Taliban oder von ihnen geduldeter Terroristen gelangen könnten, wäre für Washington „das größte denkbare Fiasko!“, titelte kürzlich die New York Times.
Zudem sehen Strategieexperten in einem möglichen Zusammenbruch Pakistans die Gefahr eines „Instabilitäts-Domino“ in der gesamten Region – von Afghanistan bis Kaschmir. Daß Taliban-Verbände bereits bis auf 100 Kilometer an die Hauptstadt Islamabad herangerückt sind, hat zu Panik in Washington geführt. Verteidigungsminister Robert Gates drängte vehement zum Handeln, Außenministerin Hillary Clinton sprach davon, Pakistan dürfe nicht „kapitulieren“, Barack Obama zeigte sich öffentlich „sehr besorgt“.
Zardari bemühte sich, den Westen zu beruhigen: „Die Atomanlagen Pakistans sind in sicheren Händen.“ Das Kontrollsystem sei umfassend und funktioniere. Über wie viele Atomsprengköpfe Pakistan verfügt, ist Staatsgeheimnis. Die Atomenergiebehörde (IAEA) geht von 30 bis 40 Stück aus, andere Quellen nennen 100 bis 200 Stück. Ein Kontrollgremium mit 15 Mitgliedern (National Command Authority) unter dem Vorsitz des Präsidenten und des Premierministers überwacht das Arsenal. Nach Angaben der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) werden die Komponenten für die Atombomben an „mindestens sechs verschiedenen Orten“ im Land aufbewahrt, „verteilt über mehrere Provinzen“. Zudem würden „mehrere tausend Soldaten“ die Arsenale bewachen. Ein kurzfristiger Einsatz sei also „unter gar keinen Umständen“ möglich. Zudem müsse für den Zugang zu den Komponenten ein Code von zwei Personen eingegeben werden.
Pakistanische Experten sehen die Sicherheitsfrage nuanciert. Die Nuklearwaffen seien „extrem gut gesichert“, meint der Politikberater Imtiaz Gul, und die Taliban seien weit davon entfernt, die Kontrolle über sie erlangen zu können. „Der Westen“ wolle „mit seinen schrillen Aussagen nur den Druck auf Pakistan erhöhen“. Der Physiker und Nuklearexperte Pervez Hoodbhoy ist vorsichtiger: „Wir können nur annehmen, daß die Leute, auf die es ankommt, loyal sind, wir wissen es aber nicht genau.“
Von der Hand zu weisen ist die Gefahr jedenfalls nicht, daß die „islamische Atombombe“, wie die Islamische Republik Pakistan diese Waffe seit ihrem ersten Nukleartest 1998 feiert, zu einer „islamistischen Bombe“ werden könnte. Das Thema wird auf jeden Fall auf der Agenda stehen, wenn Präsident Obama, dessen Regierung neuerdings Afghanistan und Pakistan als ein gemeinsames Problem („AfPak-Strategie“) behandeln will, dieser Tage in Washington mit seinen Kollegen aus Afghanistan und Pakistan, Hamid Karsai und Asif Ali Zardari, eine abermals „neue Strategie“ besprechen will. Er hat es allerdings mit Partnern zu tun, wie sie schwächer nicht sein könnten: Karsai muß sich im August bei Präsidentschaftswahlen behaupten, und Zardaris Pakistan steht vor einem Staatsbankrott und ist ja gerade selbst das Problem, das man lösen möchte.
Foto: Pakistanische Soldaten im Kampfeinsatz: Nicht „kapitulieren“