Vor wenigen Tagen fand in der wiederentstehenden Dresdner Frauenkirche nach fünfundfünzig Jahren das erste vorweihnachtliche Konzert statt. Seinerzeit blieb Sebnitz durch das couragierte Handeln des damaligen Bürgermeisters Dr. Steudner beim Einzug russischer Soldaten vor Zerstörungen bewahrt. Dennoch kann der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche die derzeitige Lage in Sebnitz deutlich machen.
Vor vier Wochen wurden die Sebnitzer durch einerseits gezielte und andererseits ungeprüft vorgenommene Medienberichte "platt gemacht". Die Wirkung der Medienkampagne führte unter anderem dazu, daß einer Sebnitzerin das gewünschte Feriendomizil in Österreich nicht gebucht wurde, weil, wie man sagte, nicht an Neonazis vermietet werde. Jugendliche aus Sebnitz, so wurde mir berichtet, erhalten die Bewerbungsunterlagen ungeöffnet zurück. Tatsächlich sind wir Sebnitzer weithin stigmatisiert. Bisher haben sich sämtliche durch die Bild-Zeitung publizierten Behauptungen der Familie Kantelberg-Adullah als haltlos erwiesen.
Im Bewußtsein vieler Menschen im In- und Ausland hat Sebnitz jetzt den Ruf eines rechtslastigen Ortes im äußersten Osten. Dabei hat man nicht nur gegen die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger polemisiert, sondern keine Gelegenheit ausgelassen, unsere Stadt als einen tristen Ort darzustellen. Viele der Trümmer der Dresdner Frauenkirche konnte man zunächst einmal katalogisieren und dann beim Wiederaufbau verwenden. Behauptungen, Kommentare und Stammtischmeinungen zum Fall Joseph haben die Runde um die Welt gemacht, sie haben sich damit verselbständigt und eine Eigendynamik entwickelt, über die ich oben einige Beispiele angeführt habe. Die Mittel für den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche werden größtenteils durch einen privaten Förderkreis gesammelt und bereitgestellt. So wie der Wiederaufbau der Frauenkirche nicht ohne das ideelle und finanzielle Engagement vieler engagierter Einzelner möglich wäre, so ist eine Rehabilitation der Sebnitzer Bürgerinnen und Bürger, die pauschal als Weggucker verurteilt worden sind, ohne eine langfristige medienwirksame Wiedergutmachungsarbeit von Männern und Frauen, die sich in die Verantwortung nehmen lassen, nicht vorstellbar. Ganz offensichtlich ist diese Wiedergutmachungsarbeit wesentlich schwerer als der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche, weil die oben beschriebene Eigendynamik ihren Lauf genommen hat. Das erste vorweihnachtliche Konzert nach fünfundfünfzig Jahren in der Frauenkirche fand in einem Bauwerk statt, das erst etwa ein Drittel der Gesamthöhe erreicht hat. Die wesentlichen Dinge des Lebens in unserer Großen Kreisstadt Sebnitz können und müssen sich auch dann ereignen, wenn die Voreingenommenheit vieler gegen die Sebnitzerinnen und Sebnitzer nicht nur nicht ausgeräumt ist, sondern nicht selten sogar gepflegt wird. Dabei haben die wesentlichen Dinge immer auch mit dem ganz Alltäglichen zu tun.
Wesentlich bewußter und mit offeneren Ohren werden wir in diesem Jahr die Weihnachtsbotschaft vom göttlichen menschgewordenen Wort hören. Was soll uns denn sonst noch in dieser Zeit verläßliche Orientierung geben? Sind wir doch in diesen Wochen durch den Verlust scheinbarer Selbstverständlichkeiten in unserem politischen Weltbild krisengeschüttelt. Wer Putenwurst kauft, ist bisher von der trügerischen Meinung ausgegangen, daß darin kein Rindfleisch verarbeitet ist. In der mächtigsten Nation der Welt brauchte man mehrere Wochen, um zu einem endgültigen Ergebnis der Präsidentenwahl zu kommen. Der bisherige Leiter eines kriminologischen Institutes, der durch sein Gutachten wesentlich zur Massenpsychose um den Tod des Joseph Abdullah beigetragen hat, wird niedersächsischer Justizminister. So wird es verständlich, daß wir ganz neu hinhören, ob wir uns in der Tradition des Evangeliums entdecken können. Da geht es um die Botschaft, daß Gott selbst in unserer Welt Wohnung nimmt. Am Anfang gibt es nach der biblischen Erzählung keine Herberge für die werdenden Eltern, und am Ende des Lebens des Jesus aus Nazaret mußte er eines schmachvollen Todes sterben, weil er die etablierte Ordnung störte. Leben ist zerbrechlich, oder sagen wir es in der Sprache der Philosophen: es ist kontingent.
Schnell kann durch eine schwere Krankheit oder durch das Zerbrechen zwischenmenschlicher Beziehungen das Leben von heute auf morgen grundlegend verändert sein. Innerhalb eines relativ kurzen Zeitabschnittes können Menschen bisher verläßlich geglaubte Orientierungspunkte in ihrem Denken und in ihrer geistig-geistlichen Orientierung verlieren. Im Extremfall könnte das dann zu einer geistigen Umnachtung führen.
Mitten in diese Nacht hinein, die es zu allen Zeiten der Weltgeschichte gegeben hat und geben wird, ergeht die Botschaft: Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr.
Norbert Mothes, geboren 1959 in Dresden, ist seit 1999 katholischer Pfarrer in Sebnitz.