Wir erleben derzeit womöglich eine historische Wende, die mit dem Mauerfall in Berlin vor zwanzig Jahren durchaus vergleichbar ist. Damals implodierte das morsch gewordene Gebäude des östlichen Staatssozialismus und gab die Völker Osteuropas frei – Deutschland wurde die Einheit geschenkt. Jetzt erleben wir den Einsturz der virtuellen Mauern eines mit babylonischem Größenwahn aufgeblähten Weltfinanzsystems, dem klassische Marktwirtschaftler vorwerfen, ebenfalls staatssozialistische Züge zu tragen. Denn das Leben auf Pump, die Ausweitung der Geldmenge, wurde von den Regierungen der maßgeblichen Industriestaaten bewußt betrieben, und alle schienen zunächst davon zu profitieren. Jetzt schlägt die Stunde der Abrechnung. Die Party ist vorbei.
Längst wird offen diskutiert, inwiefern nicht nur das Finanz- und Wirtschaftssystem, sondern auch die politische Ordnung der westlichen Staaten ins Wanken gerät. Sind die an ewige Schönwetterperioden gewohnten Demokratien für den Ernstfall der Krise gewappnet, wenn es gilt, alle daran zu gewöhnen, daß es nichts mehr zu verteilen gibt? Wie soll eine Mehrheit für eine Politik gewonnen werden, die für die Mehrheit Verzicht bedeutet?
In Deutschland stellt sich wenigstens die Frage der Fortexistenz des tradierten Parteiensystems mit den tragenden und in einer Großen Koalition regierenden Volksparteien SPD und CDU/CSU im Zentrum. Beide Parteien sind für die hemmungslose Verschuldungspolitik, das Euro-Abenteuer, die horrende Einwanderung in die Sozialsysteme verantwortlich. Profiteur der Vertrauenskrise der großen Parteien ist momentan mangels Alternative die FDP, die als einzige eine nicht-sozialdemokratische Politik anbietet. Doch auch sie trägt erhebliche Mitverantwortung für die aktuelle Lage.
Die Europawahl im Juni wird die Stunde des Protests sein. Hier erwächst mit dem Wahlantritt der Freien Wähler eine neue Konkurrenz im bürgerlichen Lager. Spätestens seit ihrem Durchmarsch in den bayerischen Landtag sind sie eine unübersehbare bundespolitische Größe. Was aber wollen sie im Europaparlament? Die „Freien“ sind sich über ihre Strategie selbst uneinig – nicht die beste Voraussetzung für eine Fortsetzung des Münchner Siegeszuges.
Die CSU könnte der Europa-Antritt der Freien Wähler ins Mark treffen. Sie spekulierte, bei den kommenden bundesweiten Wahlgängen der neuen Konkurrenz die verlorenen Stimmen schnell wieder abzujagen. Daraus wird wohl erst mal nichts. Die bayerische Staatspartei muß sogar um den Einzug ins Europaparlament bangen. Ihr Nichteinzug könnte einen Dominoeffekt im Parteiensystem auslösen.
Vom Etabliertenschreck bis zur ernsthaften Alternative zum faden Einerlei der Mitte ist aber auch für die Freien Wähler noch ein weiter Weg. Dafür braucht es andere Kaliber als die designierte Frontfrau Gabriele Pauli, deren Originalität sich in linksliberalem CSU-Abweichlertum auch schon erschöpft hat. Der Ehrgeiz ist da und mischt den Kartell-Muff gehörig auf – doch es fehlt noch an einem klaren Kurs.