Seine beiden Einspielungen auf dem Konzertflügel haben den Pianisten Glenn Gould und Bachs Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen BWV 988 – bekannter unter dem Titel Goldberg-Variationen- zu einem Mythus verwoben. Der lastet auf Interpreten und Hörer des Werks als eine Bürde, was vor Jahren ein junger deutscher Pianist hat erfahren müssen, der, bei seinem Debüt-Album als neuer Glenn Gould beworben, seitdem beweisen muß, daß er vielmehr Martin Stadtfeld sei. Das rätselvolle Variationswerk, der schönen Legende nach geschrieben, um es einem vorspielen zu lassen, der an Schlaflosigkeit litt, vielmehr als Abschluß der Clavierübung gedacht, war und ist für jede neue Generation von Interpreten, Komponisten und Hörern von magischer Anziehungskraft. Zu den zahllosen Einspielungen auf dem zweimanualigen Cembalo, für welches sie offenbar vorgesehen waren, und dem einmanualigen Klavier kommen Adaptionen für Blechbläser-Ensemble, Flötentrio, Gitarre, Streicher-Ensemble, Cimbalons. Und für das Akkordeon. Dieses Instrument der Volksmusik, der Kneipen und Spelunken wurde erst im vorigen Jahrhundert für die europäische Musica erudita, die gelehrte Musik, entdeckt. Aber nicht nur zeitgenössische, sondern auch klassische Musikliteratur erarbeiteten sich Akkordeonisten für ihr Instrument. Technische Voraussetzung dafür ist das Einzeltonmanual für die linke Hand, das – im Gegensatz zu dem populären Standard-Baßmanual, das die einzelnen Knöpfe mit Akkorden koppelt – ein tonhöhenrichtiges Spiel auch mit der linken Hand ermöglicht. Nun wagt erneut ein junger Virtuose, ein Akkordeonist, sein Debüt mit den Goldberg-Variationen. Und mehr als das: Denis Patkovic, in Calw geboren, dessen Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, geht das Wagnis ein, die Leistung des Meisters Bach und die seines eigenen Meisters aufzuheben. Patkovic hat bei Stefan Hussong in Würzburg studiert und an dessen Meisterklasse teilgenommen. Hussong hat einige Bachsche Werke für das Akkordeon adaptiert, darunter 1988 die Goldberg-Variationen in klassisch strenger Manier, die Ernsthaftigkeit des Anliegens ausstellend, so als bedürfte die Wahl des Instruments dieserart Legitimation. (Thorofon CTH 2047) Vor der Interpretation des Lehrers wirkt die des Schülers geradezu manieristisch. (Hänssler Classic CD 98.527) Das Akkordeon schlägt mit eigener Zunge durch und spricht mit eigener Klangrede drein, äußerst expressiv, ja, aggressiv, musizierlustig seine niedere Herkunft bekennend, eher aufmüpfiger Partner des Spielers denn Vollstrecker des Komponisten- oder Interpretenwillens. Das klingt ebenso nach Balkan wie nach historischer Aufführungspraxis. Die hat Denis Patkovic bei dem finnischen Komponisten, Cembalisten und Dirigenten Jukka Tiensuu eingehend studiert. Und Tiensuu hat ihm vierzehn in sich abgeschlossene Stücke, Erz, komponiert, die separat aufgeführt werden können, deren Anordnung aber für den Fall, daß sie zwischen die Goldberg-Variationen geschaltet werden, genau festliegt. Tiensuu schreibt die Bachschen Variationen fort, läßt verborgene Schichten ausmusizieren und vor allem den Interpreten Position beziehen. Der streift die Grenzen des Instruments und lotet die extremen Ausdruckscharaktere aus. Das Wiedereinsetzen der Bachschen Variationen bringt schockierende Hörmomente, in denen kaum mehr auszumachen ist, wer von den beiden eigentlich der moderne Komponist ist, Tiensuu oder Bach, weil die Wahrheit der einen Komposition die Wahrheit der andern ist. Ein Konzept auf der Höhe der Zeit, meisterlich umgesetzt, bildend und unterhaltend – und eine Reverenzaufnahme!