Die Globalisierung ist in aller Munde. Die Politik in Deutschland und Mitteleuropa dreht sich im wesentlichen um die Frage, wie mit den Globalisierungs- folgen im eigenen Land umzugehen ist. Globalisierung bedeutet Entwicklung hin zu einer „Weltgesellschaft“. Doch was ist das, „Weltgesellschaft“, und wie ist die Beziehung von Weltgesellschaft zu Nation und Nationalstaat zu denken, oder hören beide angesichts der offensichtlichen Entwicklung zur Weltgesellschaft auf zu existieren? Der deutsche Soziologe Niklas Luh-mann hat den Begriff der „Weltgesell-schaft“ schon früh in die soziologische Diskussion eingebracht, lange bevor Globalisierung ein Thema der Politik und der Massenmedien war. Als Weltgesellschaft bezeichnet Luhmann die Ausdehnung von Gesellschaft als Gesamtheit der füreinander erreichbaren Kommunikationen über nationale und regionale Beschränkungen hinaus. Für Luhmann besteht die Gesellschaft (die es weltweit nur einmal gibt) aus Kommunikationen, aus sonst nichts. Wie die Atome die kleinsten Teile der Physik darstellen, so ist die (einzelne) Kommunikation der kleinste Baustein der Gesellschaft, die folglich aus der Vielzahl der stattfindenden Kommunikationen besteht. Insbesondere mit der Entwicklung der Massenmedien sind diese Kommunikationen nicht mehr regional oder national ein- und begrenzbar (ich kann via Internet mit jedem Menschen der Welt kommunizieren, insofern er über einen Internet-Zugang verfügt), die Welt wird zum „globalen Dorf“. Deswegen ergibt es heute keinen Sinn mehr, von der „deutschen“ oder „französischen“ Gesellschaft zu reden. Da es keine Grenzen der Erreichbarkeit von Kommunikation weltweit mehr gibt, jeder mit jedem potentiell kommunizieren kann, kann Gesellschaft nach Luhmann heute nur als Weltgesellschaft verstanden werden (wobei immer noch mit dem Sonderfall zu rechnen ist, daß im Regenwald von Papua-Neuguinea ein unentdeckter Stamm existiert, der keine kommunikativen Außenkontakte pflegt. Dann würden tatsächlich zwei Gesellschaften existieren). Nach Luhmann ist dieser Sachverhalt des Existierens einer Welt-gesellschaft besonders durch das Prozessieren der gesellschaftlichen Funktionssysteme plausibel. Die (Welt)Gesell-schaft selbst ist unterteilt („funktional differenziert“) in einzelne Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Recht, Religion etc. Luhmann schreibt: „Man kann nicht sagen, daß am Brenner die Wissenschaft, Familienbildung, die Religion, die Wirtschaft, die Politik, das Recht und so weiter enden und hinter dem Brenner in all diesen Hinsichten etwas anderes beginnt.“ Und an anderer Stelle heißt es: „So besteht kein Zweifel, daß die Wissenschaft sich nicht als regionale Wissenschaft verstehen läßt. Es gibt keine belgische Wissenschaft oder eine Wissenschaft in Thailand. Wissenschaft ist auf alle Fälle eine weltgesellschaftliche Kommunikation, und wissenschaftliche Entdeckungen, Fortschritte in irgendwelchen Zentren, in Stanford, Moskau oder Bielefeld sind weltweit kommunizierbar und weltweit kritisierbar.“ So operieren all diese Funktionssysteme weltweit, die Wirtschaft ist globalisiert, die Politik zunehmend internationalisiert, ebenso das Recht, die Wissenschaft, die Massenmedien und selbst die Religion. Wenn wir konze-dieren, daß wir auf dem Weg zur Weltgesellschaft sind, heißt das nicht, daß die Nationalstaaten obsolet werden. Mit Hegel ist eine in Nationalstaaten politisch diversifizierte Weltgesellschaft denkbar. So plausibel und zwingend diese Argumentation auf den ersten Blick erscheint, so entdeckt man doch bei genauerem Hinsehen Fallstricke, wenn man von der eher technischen Fähigkeit der Erreichbarkeit von Kommunikation absieht und sich dem Problem der unterschiedlichen Sprachräume zuwendet. Da Kommunikation in wesentlichen Teilen sprachgesteuert abläuft, ist bei aller prinzipieller kommunikativer Erreichbarkeit davon auszugehen, daß Sprachgrenzen existieren, die auf eben- diese Erreichbarkeit Einfluß nehmen. Nicht umsonst spricht man von Sprachbarrieren. Die Wahrscheinlichkeit, daß dieser Aufsatz im französischen Sprachraum Resonanz findet (also Anschlußkommunikation auslöst), ist erheblich geringer als im deutschen Sprachraum. Er muß erst einmal übersetzt werden, um wahrnehmbar zu sein. Auch wenn ich eine Botschaft weltweit über Satelliten-TV ausstrahle, also weltweite kommunikative Erreichbarkeit realisiert habe, kann ich nicht davon ausgehen, daß sie weltweit beim Rezipienten verstanden wird, weil ich mich immer für nur eine Sprache entscheiden kann. Bei Kommunikation geht es nicht nur um Erreichbarkeit, es geht auch um „Verständigung“, auch bei Luhmann ist „Verstehen“ Teil des kommunikativen Aktes. Mit einem andalusischen Bauer werde ich mich nicht sprachlich verständigen können, es sei denn, er kann Deutsch oder ich Spanisch oder wir beide können Englisch oder Französisch als kommunikative Ausweichmöglichkeit. Volle kommunikative Erreichbarkeit (und damit Weltgesellschaft) ist somit erst dann realisiert, wenn entweder alle Menschen eine Sprache sprechen (was ein Ding der Unmöglichkeit ist) oder wenn eine Sprache sich als Weltsprache konstituiert, die neben der eigentlichen „Muttersprache“ vom Gros der Menschheit gesprochen wird, sei es Englisch, Esperanto oder Chinesisch. Im Grunde müßte sich im Weltmaßstab das wiederholen, was in der Entwicklung der einzelnen nationalen Hochsprachen in Europa erfolgt ist: Die einzelnen Vernakulärsprachen (Dialekte) wurden durch eine Hochsprache verdrängt, um in den einzelnen aufkommenden Nationalstaaten Verständigung über die Region hinaus zu ermöglichen (so zum Beispiel mit dem sächsischen Amtsdeutsch in Luthers Bibelübersetzung oder der Sanktionierung von Nebrijas „Grammatica Castellana“ als spanische Nationalsprache). Geht man also davon aus, daß kommunikative Verständigungsfähigkeit und damit nicht nur Erreichbarkeit den Maßstab der Entwicklung der Weltgesellschaft markiert, so haben wir den Status einer Weltgesellschaft noch nicht erreicht, obwohl wir uns ohne Zweifel auf dem Weg dorthin befinden. Wenn wir somit auch konzedieren, daß wir auf dem Weg zur Weltge-sellschaft sind, so heißt das keineswegs, daß damit die Nationalstaaten obsolet werden. Mit der von Hegel eingeführten begrifflichen Trennung von Staat und Gesellschaft ist es durchaus denkbar, sich eine in Nationalstaaten politisch diversifizierte Weltgesellschaft vorzustellen. Selbst Luhmann räumt ein, daß ein „Weltstaat“ in absehbarer Zeit nicht etablierbar ist. „Ein wichtiger Grund ist, daß die Konsenschancen weltweit nicht optimiert werden könnten, insbesondere unter Mehrheitsregeln nicht. Man kann sich nicht vorstellen, gegeben die heutige Struktur regionaler Diversität und kleinerer und größerer Spracheinheiten, daß in einem weltweiten Abstimmungsverfahren lokale Chancen, sich über bestimmte politische Maßnahmen zu verständigen, ausgenutzt werden könnten.“ Gleichwohl steckt nach Luhmann der Nationalstaat in der Krise. Dies wird deutlich, wenn wir zwischen Staat und politischem System unterscheiden. Fassen wir den Staat als die Gesamtheit der mit der Herstellung bindender Entscheidungen befaßten Einrichtungen des politischen Systems auf, so wird schnell deutlich, daß das politische System sehr viel größer als der Staat ist. Der Staat ist Teil des politischen Systems. Politische Parteien beispielsweise sind Teil des politischen Systems, gehören aber nicht zum Staat. Und so kann man beobachten, wie der Staat, der in Europa vom 16. bis 20. Jahrhundert das Politische dominierte, immer mehr Kompetenzen an überstaatliche Instanzen und an Nichtregierungs-organisationen abgeben muß, und wie er angesichts von ökonomischer und gesellschaftlicher Globalisierung in der Wahrnehmung seiner Kernkompe-tenzen eingeschränkt wird. Hatte noch Max Weber den Staat als anstaltsmä-ßigen Herrschaftsverband mit dem Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit definiert, so sehen wir in den Metropolen, wie der Staat immer weniger in der Lage ist, physische Gewalt zu kontrollieren und wie er durch die Internationalisierung der Ökonomie in seiner Funktion behindert wird, eine eigenständige Wirtschafts- und Gesell-schaftspolitik umzusetzen. Wie auch immer die Probleme des modernen Staates eingeschätzt werden, sie resultieren in großen Teilen daher, daß der Staat Teil eines weltweit operierenden politischen Systems geworden ist und daß die Staaten als eine Diffe-renzierungsform eines weltpolitischen Systems erscheinen. Die Internationalisierung der Politik bedeutet, daß der Nationalstaat vor neuen Herausforderungen steht. Wenn bestimmte politische Kreise vor diesem Hintergrund politischer Veränderung in den Abgesang des Nationalstaates einstimmen, so irren sie sich allerdings gewaltig. Mögen sich die Umfeldbedingungen des Nationalstaates angesichts weltgesellschaftlicher Entwicklungen verändern, so bleibt die politische Form „Staat“ nach wie vor unverzichtbar, sie muß sich nur an neue gesellschaftliche Gegebenheiten anpassen. Luhmann hatte schon das Problem der politischen Konsensbeschaffung angesprochen. Es macht keinen Sinn, wenn beispielsweise asiatische Staaten über Wirtschaftsförderungsprogramme in den Niederlanden mitentscheiden. Konsensbildungen sind nur auf mittlerem Aggregationsniveau von politischen Einheiten zu erzielen. Auch in dieser Hinsicht gilt das Subsidiaritätsprinzip der katholischen Soziallehre. Die Probleme der Überalterung der Gesellschaft mit der dramatisch anwachsenden Abgabenlast für die jüngeren Jahrgänge lassen sich nur in diesem Lande selbst regeln. Da helfen uns keine Portugiesen oder Briten. Eine weitere unverzichtbare und damit nicht delegierbare Funktionsleistung des Nationalstaates finden wir bei Max Weber in seinem Opus magnum „Wirtschaft und Gesellschaft“. Dort definiert er „Nation“ ganz unpathetisch und geradezu funktionalistisch, „daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei“. Hier geht es nicht um allgemein-menschliche Solidarität des Weltbürgers aus humanitärer Perspektive, der Nationalstaat verdonnert zur Zwangssolida-rität für einen räumlich und sozial eingegrenzten spezifischen Sozialverband. Gerade in der heutigen Zeit mit ihren demographischen und sozialen Verwerfungen in Deutschland spüren wir die kollektive Zwangssolidarität besonders intensiv. Die Probleme der Überalterung der Gesellschaft mit der dramatisch anwachsenden Abgabenlast für die jüngeren arbeitenden Jahrgänge lassen sich nur in diesem Lande selbst regeln. Da helfen uns keine Portugiesen oder Briten, die mit der Absicherung ihrer sozialen Sicherung selbst genug zu tun haben. Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme wie Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung erfolgt in den Grenzen des Nationalstaates Deutschland. Und wenn sich dieses Land mehrheitlich für diese Form der sozialen Sicherungsleistung entschieden hat, dann sind die Bürger dieses Landes zwangsweise, ganz im Sinne von Max Weber, an diese Solidarität gebunden. Die Abschaffung des Nationalstaates würde bedeuten, daß diese historisch gewachsenen und kulturell geprägten politischen Sonder- und Spe-zialentscheidungen für eine Region nicht mehr zu erbringen wären. Wir würden die Souveränität verlieren, diese Dinge für uns selbst nach unseren eigenen politischen Vorstellungen zu regeln. Die jüngste Krise der EU über ihre Verfassung scheint genau von der Angst der Menschen gespeist zu sein, daß die einzelnen Länder ihre soziale Selbstregelungskompetenz und Souveränität verlieren könnten. Die Franzosen haben bei dem Referendum über die Europäische Verfassung mit „Nein“ gestimmt, weil sie ihre spezifische Form der staatlichen Verfaßtheit nicht einem Frei-handelsmodell mit Nachtwächterstaat angelsächsischer Provenienz opfern wollen. Die „grande nation“ will einen starken Staat und will sich ihre spezifische Form der Lösung gesellschaftlicher und politischer Probleme nicht durch eine EU-Verfassung abnehmen lassen. Der Nationalstaat steht in einer glo-balisierten Welt sicher vor großen Herausforderungen, und er muß sich sicherlich auf das Phänomen der Internationalisierung der Politik neu einstellen. Gleichwohl lassen sich die großen zivilisatorischen politischen Leistungen wie Demokratie und soziale Sicherung nur im Nationalstaat organisieren. Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Soziologie an der Universität Konstanz. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Deutschlands ökonomische Zukunft zwischen Globalisierung und Protektionismus (JF 24/05) sowie über die Rückkehr des Kapitalismus (JF 19/05).