Ein kalter Wind fegt über den Ost-Strand der Kieler Außenförde. Der Seegang ist stark, der Himmel tiefgrau. Durch die dunklen Wolken dringen ab und an ein paar Sonnenstrahlen. Dann beginnt es zu nieseln, doch es ist kein Regen: Der Wind schlägt die Wellen aus dem Meer. Es ist ungemütlich, aber die Hunderte von angereisten Ostsee-Touristen lassen sich nichts anmerken. Sie schlendern über den Strand, sammeln Muscheln und amüsieren sich bratwurstessend über die Reichskriegsflaggen, die beim Souvenirladen zu kaufen sind. Doch deswegen sind sie nicht hierher gekommen. Am Strand des kleinen Kieler Vororts Laboe liegt das Unterseeboot U-995 – das einzige in Deutschland zu besichtigende U-Boot des Typs VII C aus dem Zweiten Weltkrieg. Von diesem Typ wurden insgesamt 693 Einheiten gebaut. Mit ihnen sollte vor allem die Versorgung Englands unterbunden werden. Das im Originalzustand belassene U-995 ist eine große Attraktion: Seit März 1972 kann es am Strand unterhalb des Marine-Ehrenmals, das an die in beiden Weltkriegen gefallenen Marineangehörigen erinnert, besichtigt werden. 350.000 Menschen lockt das U-Boot jährlich an – der 85 Meter hohe Turm des Mahnmals und die Museumshalle alleine würden das wohl kaum schaffen. „Ich bekomme hier Platzangst“, sagt eine ältere Frau zu ihrem Mann, als sie das Boot durch den Heckeinstieg betreten. Sie sind aus Hamburg gekommen, um das U-Boot und das Ehrenmal zu besichtigen. Durch den kleinen Eingang gezwängt, befindet der Besucher sich in einem schmalen, schlecht beleuchteten Raum. An den Wänden des „E-Maschinenraums“ reihen sich zahlreiche verschieden große Rädchen. Überall sind Knöpfe und Meßinstrumente. Es sind alles schwer zu bedienende Geräte – eben keine „Touchscreens“, Autopiloten oder digitale Armaturen. Es ist so eng, daß zwei Erwachsene kaum nebeneinander passen. Im Boot stinkt es nach Öl und Metall. Es ist unbegreiflich, wie in der etwa zwei Quadratmeter großen Schiffsküche mit einem kleinen Elektroherd eine fünfzigköpfige, unter schwersten Bedingungen arbeitende Besatzung auch bei starkem Seegang versorgt werden konnte. Der Mannschaftsraum bot ebenfalls keine Rückzugsmöglichkeit: In den viel zu kurzen Betten mußten dreißig Männer in wechselnden Schichten schlafen – direkt neben den 13 Reservetorpedos, die dort gelagert wurden. Die Offiziere hatten nur unwesentlich mehr Platz. Der Besucher muß im gesamten U-Boot aufpassen, daß er mit seinen Kopf nirgendwo anstößt – und das, obwohl das Boot heute fest an Land steht. Kaum vorzustellen, wie es war, als sich U-995 durch meterhohe Sturmwellen kämpfte, als „geflutet“ wurde, als das Boot innerhalb von Sekunden in die Tiefe tauchen mußte. Die Besucherin aus Hamburg schüttelt ihren Kopf und meint: „Mich würde man mit so einem Schiff nicht für eine Million Euro unter Wasser kriegen.“ Ihr Mann lacht, sagt aber schließlich selbst: „Es ist schon unvorstellbar, unter welchen Bedingungen damals gekämpft wurde. Vor den Männern, die mit solchen Schiffen rausgefahren sind, muß man zwangsläufig Respekt haben. Daß die Mannschaft dieses U-Bootes heil zurückkam, grenzt an einem Wunder.“ Auch für den ehemaligen Kommandanten von U-995, Hans Georg Hess, ist es keine Selbstverständlichkeit, daß er und seine Mannschaft unversehrt nach Hause kehren konnten. Schließlich fielen 28.000 der 40.000 Männer der U-Boot-Waffe. Doch Hess und seine Männer überlebten. Heute zählt der gebürtige Berliner beinahe 84 Jahre. Der immer noch robuste einstige Kommandant und promovierte Jurist sitzt auf dem Sofa in seinem Haus nahe Hannover und beginnt zu erzählen. Er glaubt fest daran, daß er ohne Gottes Hilfe heute nicht hier wäre. „Seeleute brauchen einen Glauben“, sagt er. „Manche behaupten, man könne das furchtbare Geschehen auf See mit Zorn überstehen. Doch das ist nicht so. Sie müssen glauben können, sonst sind sie dem Einsatz nicht gewachsen.“ Dieses Vertrauen habe die Männer unter enormem psychischen Druck handlungsfähig gehalten. Denn bei der feindlichen Luftüberlegenheit und der Gefahr des neu entwickelten Radarsystems der Alliierten waren die Überlebenschancen der U-Bootfahrer äußerst gering – und das wußten sie. „Trotzdem habe ich unter den Matrosen keine Verzweiflung erlebt. Denn für uns war auch klar: Wenn die U-Boote nicht rausfahren und die Geleitzüge angreifen, dann gibt es zweitausend Bomber mehr über den deutschen Städten.“ Als Hess sich nach seinem Abitur zur Marine meldete, war er 16 Jahre alt. Als er das Kommando über U-995 als Oberleutnant zur See übernahm, gerade mal fünf Jahre älter. Die Männer seiner Besatzung waren meist älter als er. Bescheiden betont Hess, es sei nicht sein eigenes Verdienst gewesen sei, daß er so früh Kommandant wurde. Doch auch nach so vielen Jahren sind dem 83jährigen deutlich die Charaktereigenschaften anzusehen, die einen guten Befehlshaber ausmachen: Er ist präzise, aufrecht, unbeugsam und bescheiden. Und er hat Sinn für Humor. „An Bord hat der Kommandant immer das letzte Wort“, erzählt Hess. „Aber wenn er klug ist, fragt er seine Männer nach ihrer Meinung.“ Als Kommandant müsse man Arbeit und Verantwortung delegieren können und jeden das machen lassen, was er am besten könne. Schließlich hatte jeder seine Funktion an Bord. „Ich zum Beispiel habe nie viel Ahnung von Technik gehabt. Auf meiner ersten Fahrt habe ich mir deshalb genau erklären lassen, wie ein Dieselmotor überhaupt funktioniert“, lacht Hess, der nach dem Krieg als Anwalt und als Chef des Industrie- und Handelskammer Niedersachsen tätig war. Doch auch wenn die anderen ihren Teil zum Erfolg an Bord beitrugen, die Verantwortung über das Leben seiner fünfzig Männer trug Hess alleine – und das mit 21 Jahren. „Deshalb war mir Respekt immer wichtiger als bloße Beliebtheit.“ Kumpelei und das Duzen mit Untergebenen habe er nie leiden können. Trotz der straffen Hierarchie an Bord sei für ihn der bedingungslose Zusammenhalt der Besatzung die wichtigste Erfahrung im Krieg gewesen. Seit Kriegsende trifft sich die Mannschaft von U-995 regelmäßig alle zwei Jahre. „Die Kameradschaft war so stark, daß sie bis heute gehalten hat. Das ist etwas ganz Besonderes“, sagt Hess sichtlich gerührt. Dieses nahtlose Zusammenspiel der Mannschaft auch in schwierigen Situationen zahlte sich aus: Anfang Februar 1945 führt eine Feindfahrt U-995 in den von den Russen besetzten und norwegischen Nordmeerhafen Kirkenes. Bevor das Boot in der Nacht in den dreißig Kilometer langen Fjord eindringt, nimmt Hess das Bordmikrofon und schildert seiner Mannschaft die gefährliche Situation. „Es gibt drei Möglichkeiten: Entweder haben wir Glück und können den Dampfer unbehelligt versenken, oder wir geraten in russische Gefangenschaft, oder wir sind bald nicht mehr auf dieser Erde.“ Hess spricht offen und sagt: „Aber wenn einer hier an Bord Angst hat, dann bin ich das.“ Bei dem Versuch, sich getaucht dem Hafen zu nähern, gerät U-995 in flachem Wasser auf Grund. Das Boot ist zwar nicht beschädigt, sitzt aber nun auf steil abfallenden Felsen in Ufernähe fest, ständig in Gefahr, abzurutschen. Doch Auftauchen bei Tag, direkt vor dem Feind, käme einem Selbstmord gleich. So wartet Hess bis zur Dämmerung, dann taucht das Boot vorsichtig auf. Sie bleiben unbemerkt und können aus einer Entfernung von zwei Kilometern den einzigen im Hafen sichtbaren Dampfer torpedieren. Ohne Probleme gelingt es U-995 wieder, die offene See zu erreichen. Für diese erfolgreiche Mission wird Hans Georg Hess mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes ausgezeichnet. Zurück in Laboe: Die meisten Besucher schauen sich erst das U-Boot an, dann machen sie sich auf zum Ehrenmal. Gegenüber dem Turm steht die historische Halle, in der anhand zahlreicher Schiffsmodelle und anderer marinehistorischer Exponate die deutsche Marinegeschichte dargestellt wird. Zwischen Ehrenmal und historischer Halle befindet sich eine 7.000 Quadratmeter große Freifläche mit der darunter liegenden Gedächtnishalle. Als 1927 mit dem Bau des Ehrenmals begonnen wurde, sollte damit der Tausenden im Ersten Weltkrieg umgekommenen Soldaten der Kaiserlichen Marine gedacht werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Widmung auf die Gefallenen der Kriegs- und der Handelsmarine ausgeweitet. Mittlerweile wird mit dem Ehrenmal aller toten Seefahrer, auch der zivilen, sämtlicher Nationen gedacht. Kritiker des Mahnmals empfinden es trotz der Aufweichungen des ursprünglichen Zwecks als immer noch zu „militärisch“ oder zu „nationalistisch“. Das kann Hans Georg Hess nicht verstehen. Für ihn soll mit dem Ehrenmal derjenigen gedacht werden, die ihr Leben im Krieg verloren haben. „Das Denkmal ist doch auch ein Mahnmal. Es war nie seine Zielsetzung zum Krieg aufzurufen – das ist absurd!“ Hess findet eine Gleichstellung der gefallenen Soldaten mit jedem, der auf See gestorben ist – auch mit dem, der in Friedenszeiten etwa unter Alkoholeinfluß ertrunken ist -, unmöglich. Auch die vom Marinebund geplante Aufführung der Verdi-Oper „Nabucco“ (JF 13/07) auf dem Gelände lehnt Hess entschieden ab: „Das ist eine Zweckentfremdung der Mittel im doppeltem Sinne: Erst wird der Gedenkort entweiht, und dann wird das verdiente Geld noch benutzt, um das Ehrenmal umzuwidmen.“ Doch blättert man im Gästebuch des Ehrenmals, so zeigt sich schnell, daß viele Besucher anders über die Umwidmung denken als der ehemalige Kommandant. Es sei gut, daß das Ehrenmal nun für alle gelte und daß sich in Deutschland endlich ein anderes Denken durchgesetzt habe, ist in zahlreichen Einträgen zu lesen. Besucher wie Ralf Biever aus Hannover, der mit seiner Familie einen Tagesausflug zum Ehrenmal macht, sind die Ausnahme. Der 38jährige hat von der Umwidmung nichts gehört: „Ich war noch nicht drin“, sagt er vor der Museumshalle. Er ist aber der Meinung, daß hier eindeutig nur die toten deutschen Marinesoldaten geehrt werden sollten. Andere Länder ehrten doch auch nicht die deutschen Gefallenen. Als er später aus der Gedenkhalle wieder rauskommt, sagt er wütend: „Die Umwidmung ist eine unglaubliche Frechheit.“ Eisessend besteigt eine Familie aus Nordfriesland mit zwei kleinen Kindern den Turm des Ehrenmals. Sie wollen die Aussicht von oben genießen. Sie hatten bislang nichts von der Umwidmung mitbekommen. „Aber wenn Sie mich fragen, finde ich es gut“, sagt der 33jährige Familienvater. Auch eine Museumsangestellte verteidigt die Umwidmung: „Es sind so viele Menschen aus allen Nationen auf See umgekommen – warum sollte man ihnen nicht allen mit diesem Mahnmal gedenken? Der Tod macht doch auch keinen Unterschied zwischen Menschen“, sagt die 57jährige Verkäuferin im Souvenirladen. Doch mancher Besucher scheint trotz aller Entschärfung entsetzt: „Die Kriegsmarine kommt hier überraschend gut weg. Die weitgehend unkritische Ausstellung sollte dringend modernisiert werden“, fordert einer von ihnen im Gästebuch. Ein vierzigjähriger englischer Soldat, der in Paderborn stationiert ist, besucht das Marine-Ehrenmal und das U-Boot mit seinen Kindern. „Ich will ihnen zeigen, wie es damals war. Die U-Boote waren echte Fallen.“ Ihm sei es egal, daß das Boot den ehemaligen Feinden gehörte. Die einfachen Soldaten hätten schließlich keine Politik betrieben, sondern nur das ausgeführt, was oben entschieden wurde. „Sie waren nicht verantwortlich, zahlten aber einen hohen Preis dafür.“ Seiner Meinung nach sei es deshalb für jede Nation sehr wichtig, ihrer gefallenen Soldaten zu gedenken. Die Umwidmung des Ehrenmals findet er dagegen „typisch deutsch“. U-995 (Typ VII C) Länge: 67,23 m Größte Breite: 6,20 m Tiefgang: 4,78 m Gesamthöhe von Kiel bis Turm: 9,55 m Größte erreichte Tauchtiefe: 240 m Stapellauf: 22. Juli 1943 Indienststellung: 16. September 1943 Einsätze im Nordmeer: ab 1. Juli 1944 Letzte Feindfahrt: 14. März bis 23. März 1945 Auf fünf Feindfahrten im Nordmeer insgesamt versenkt: 4 Frachter (insgesamt 22.000 Bruttoregistertonnen), 1 Zerstörer, 1 bewaffneter Fischdampfer, 1 Fischkutter, 1 Geleitboot. Nach dem Zweiten Weltkrieg: Indienststellung als „Kaura“ (Nato-Bezeichnung „S-309“) durch die Königliche norwegische Marine: 6. Dezember 1952 Außerdienststellung: 15. Dezember1962 Aufgestellt in Laboe: 13. März 1972 Fotos: Hans Georg Hess: Als letzter Kommandant von U-995 kurz nach der Ritterkreuzverleihung im Jahr 1945 und heute mit 83 Jahren; Marine-Ehrenmal: „Zweckentfremdung im doppelten Sinne“