Kaum ein Bezirk der menschlichen Kultur und des persönlichen Lebens ist so wertbetont und wertbeladen wie der erotische und sexuelle. Ein Ergebnis des Wertewandels, der sich in der Gegenwart vollzieht, liegt gerade darin, daß wir diese Wertbezogenheit des Miteinanders von Mann und Frau neu erkennen. Schließlich gab es in nicht allzu ferner Vergangenheit eine Zeit, in der dieser Wertbezug und damit auch die ethische Verantwortung der Sexualität des Menschen geleugnet wurde. Man sprach sogar von sexueller Revolution. Mit den Parolen „Zurück zur Natur“ und „Seid nett aufeinander“ machte fast eine ganze Generation den Versuch, die Sexualität zu entpflichten – man merkte nicht, daß man sie damit zugleich auch entwertet hat. Sexualität sollte „sauber“ und zu einem „Zweck an und für sich“ werden (John Clasen). Dabei spielten verschiedene Gründe ineinander und kumulierten in ihrer Wirkung. Vor allem wollte man die politische Befreiung und Emanzipation auf dem Umweg über die sexuelle Befreiung erreichen. Dadurch, daß der Mensch sexuell könne, was er wolle und wonach es ihn gelüste, sollte er sozusagen einen Vorgeschmack der politischen Freiheit und Selbstbestimmung bekommen. Daß an die Stelle politischer Bevormundung nun die Triebherrschaft über den derart befreiten Menschen treten könne, war den Agitatoren dieser Bewegung (die auf den Freud-Schüler Wilhelm Reich zurückging) offenbar nicht bewußt. Die erste – politische – Befreiung scheiterte also gerade an dem gewaltigen Aufschwung der zweiten – sexuellen -, nachdem diese ihre Funktion der öffentlichen Zertrümmerung von Hemmungen und Schranken erfüllt hatte. Die zweite allerdings endete dann in Überdruß oder Aidsfurcht, als sich herausstellte, daß die völlige Enttabuierung nicht etwa größere Befriedigung und Erfüllung mit sich bringt, sondern Auflösung gewachsener Beziehungen, Verlust an Geborgenheit und Heimat in einer stabilen Bindung. Damit einher gingen Verwirrung, Ratlosigkeit, rastlose Hetze nach immer neuen und stärkeren Sensationen sowie Auslieferung an eine Unterhaltungs und Amüsierkultur, die mittlerweile so gut wie alle Massenmedien beherrscht und in den farbigen privaten Fernsehprogrammen ins kaum mehr Erträgliche gesteigert ist. Nur ab und an erschrecken neue Zahlen über die alarmierende Zunahme der Aids-Infektionen in aller Welt das Publikum – bis der kurze Schock schon bald in den ungehemmt weiterströmenden Bilderfluten ertrinkt. Im Schatten dieser Entwicklung beginnt allerdings bei den Klügeren und Kritischeren vor allem unter den jüngeren Leuten die Ahnung zu wachsen, daß die völlige Enttabuierung weder den erhofften dauerhaften Genuß garantiert noch die insgeheim erhofften wertbetonten Gefühle von Liebe, Zärtlichkeit und Glück vermittelt. Mit dem Bruch von Tabus ist noch keine wirkliche Freiheit erreicht – weder für die unterdrückten seelischen Kräfte noch für die unterdrückten und benachteiligten Gruppen der Gesellschaft. Nicht nur Tabus, auch Tabubrüche können
Unheil verursachen. Die heftig angestrebte sexuelle und dahinter sich angeblich eröffnende persönliche und gesellschaftliche Befreiung der sechziger Jahre erwies ihre Kehrseiten. Mit dem Bruch von Tabus ist noch keine wirkliche Freiheit erreicht – weder für die unterdrückten seelischen Kräfte noch vor allem für die unterdrückten und benachteiligten Gruppen der Gesellschaft. Nicht nur Tabus, sondern auch Tabubrüche können Unheil verursachen und Menschen unglücklich machen. Gewisse Tabus gehören zu den einfachsten Grundlagen jeder Gesellschaft. Es sind die nicht weiter zu begründenden Selbstverständlichkeiten, die bis in den Alltag von Sitte, Norm und Konvention hineinreichen. Wer im Badeanzug in die Oper käme, beginge einen Tabubruch, ebenso der Vater, der sexuelle Kontakte mit seiner Tochter aufnähme. Darin liegt zugleich ein Schutz der guten Sitten und des schwächeren und abhängigen Lebewesens. Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben in den ersten zwanzig Verfassungsartikeln, den sogenannten Grundrechten, solche selbstverständlichen, schützenswerten Tabus niedergelegt. Dieser Kanon gilt in der Welt als beispielhaft für einen modernen, freiheitlichen Katalog von nicht mehr abzuleitenden, aber auch nicht anzuzweifelnden Grund- und Naturrechten des Menschen. Sie dürfen nicht berührt und angetastet werden, ohne allerdings deswegen der Diskussion entzogen zu sein. Daß dabei alte Tabus gestürzt und statt dessen neue gesetzt werden, entspricht der Dynamik der Diskussion. Im Grunde dreht es sich in den Auseinandersetzungen unserer Gesellschaft über die herrschenden Tabus immer wieder um die dialektische Dynamik von Ordnung und Freiheit: Elternrecht oder Kindesrecht, Gehorsam oder Selbstbestimmung, Leistung oder Lust, Integration oder Individuation, Autorität oder Autonomie. Hat in der bisherigen Geschichte der Akzent meistens auf der ersten Seite der Medaille gelegen, so hat sie sich heute eindeutig und einseitig auf die zweite Seite gelegt. War lange Zeit die eine Seite tabu, so wird heute die andere dazu erklärt. Zwischen ihnen bestehen jedoch dialektische Spannungen, die es unmöglich machen, beide zu trennen. Sie bedingen einander: Wird die eine Seite verschwiegen und unterdrückt, erhebt sich die andere so hoch, daß sie nur noch fallen und die entgegengesetzte Bewegung auslösen kann. Eins ist nicht ohne das andere zu denken und verwirklicht sich um so besser und vollkommener, je mehr der Gegenpol miteinbezogen und mit realisiert, nicht aber verdrängt und ausgeschlossen wird. Tabus haben eine entlastende, erhaltende, konsensschaffende Funktion. Da sie aber in sich ambivalent sind, muß zugleich das Gegenteil der Taburichtung einbezogen werden, sonst schlägt der Nutzen in Schaden um. Sexverbote erhöhen bekanntlich den Reiz und sexuelle Libertinage fördert den Moralismus. Insofern ist auch die Gefahr eines totalen Tabubruchs durch eine einseitig verstandene Aufklärung nicht durch die Gegenreaktion zu mindern, wie sie ein ebenso einseitiger Konservativismus erstrebt. Nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an Aufklärung kann weiterführen, eine Aufklärung allerdings, die nicht rationalistisch und einseitig emanzipatorisch verstanden wird, sondern die Achtung, Respekt und Liebe einbezieht. Humanität ist Aufklärung mit Liebe. Aufklärung allein ist weder etwas, das die Menschen glücklicher, noch etwas, das sie menschlicher macht. So ist es auch zu erklären, daß der ersten großen Epoche der europäischen Aufklärung eine privatistische, romantische und pietistische Phase folgte. Eine ähnliche Dialektik im historischen Ablauf scheint sich in der Gegenwart auch zu vollziehen. Mit einer ausschließenden These und Antithese ohne eine neue Synthese wäre jedoch nicht viel gewonnen und der erneute Rückschlag und die immer neue Wiederholung historisch nicht verarbeiteter Prozesse wahrscheinlich. Darum kann es nicht heißen: Aufklärung oder Bewahrung, Rationalität oder Emotionalität, libertas oder caritas. Beides ist menschlich – gerade in der polaren Spannung, in der sich allerdings die Akzente wie ein Pendelausschlag der Geschichte bald mehr nach links, bald mehr nach rechts verlagern. Offensichtlich ist überall das Ende der Maßlosigkeit, der Verzettelung und der Überbewertung der reinen Quantität gekommen. Umkehr und Rückbesinnung auf das, was wesentlich ist, vor allem Sinn für Qualität ist angesagt. Qualität in der Liebe aber bedeutet menschliche Nähe und Zärtlichkeit, bedeutet die Einheit von Körper, Seele und Geist und vor allem die enge Verschmelzung von Sexualität und Liebe, die ja keine Gegensätze, aber auch nicht von vornherein miteinander verbunden sind. Liebe ist der Sinn der Sexualität, das Ziel, auf das hin sie sich sammelt, das Prinzip, das sie ordnet, und die Wärme, die sie durchpulst. Das heute gleichsam wieder neu entdeckte Wort Zärtlichkeit hat seine besondere Ausstrahlung. Wie kommt es zustande? Offenbar hat uns das kleine Wort „zart“ nicht genügt. Wir haben es noch weicher, noch anschmiegsamer gemacht zu: zärtlich. Unsere Empfindungen konnten hier gar nicht zartfühlend, empfindsam, süß und liebevoll genug sein. Es ist beinahe so, als bekäme das Gefühl der Zartheit eine andere Qualität – wie zum Beispiel bei süß und süßlich, bei weich und weichlich. Worin liegt der Wert der Zärtlichkeit? Ganz einfach ist es nicht, das mit Worten zu umschreiben. Es besteht wahrscheinlich in einer Mischung aus sinnlicher Erfüllung und aus Sehnsucht, denn auch in ihr ist bereits Zärtlichkeit enthalten, wie umgekehrt in der Zärtlichkeit immer auch Sehnsucht. Die Vereinigung ist noch unwirklich, sie wird aber später zum ersehnten Ziel. Zwischen diesen beiden Sehnsüchten keimt die Zärtlichkeit heran. Es kann nicht heißen: Aufklärung oder Bewahrung, Rationalität oder Emotionalität, libertas oder caritas. Beides ist menschlich – gerade in der polaren Spannung, in der sich die Akzente wie ein Pendelausschlag bald nach links, bald nach rechts verlagern. Rainer Maria Rilke sprach einmal von der Liebe als von zwei Einsamkeiten, die einander „grenzen und grüßen“. Es wird von beiden etwas in der Zärtlichkeit stecken, der Gruß überwiegt jedoch die Grenze. Die völlige Vereinigung ist noch fern. Es gehört ein immer wieder aufflackerndes Suchen als Antrieb dazu. Die zeitliche Dimension der Zärtlichkeit wird dadurch so unerschöpflich und endlos. Sie ist jedoch immer eine Brücke, über die Grenze der Einsamkeit zu gelangen. Ja, bis ins Alter ist sie dies. Unzählige alte Menschen leiden darunter, niemanden zu haben, von dem sie ab und zu einmal gestreichelt werden. Hier liegt wahrscheinlich der Ansatzpunkt dafür, daß Verzweiflung und Depression anwachsen und sogar in Sehnsucht nach dem Tod übergehen. Kurz: Zärtlichkeit hat in jedem Lebensalter einen hohen, wenn auch zumeist schamhaft verschwiegenen Rang. Wenn die Sehnsucht nicht mehr erweckt und erwidert wird, vereinsamen wir, und unsere Lebenserwartung verringert sich – von Lebensglück gar nicht zu reden. Wir wissen heute, daß körperliche Berührungen geradezu überlebenswichtig sind. So wie sie beim Säugling das Wachstum fördern helfen, helfen sie dem alten Menschen buchstäblich, das Leben zu verlängern. Durch Berührungen werden Hormone freigesetzt, die uns Gefühle von Glück und Geborgenheit vermitteln, Zärtlichkeiten können beruhigen und ausgleichen. Oft ist es schon beglückend, wenn jemand uns den Arm um die Schulter legt, mit der Hand über den Unterarm streichelt, uns mit Lächeln oder einer Umarmung begrüßt, übers Haar streicht oder auch an sich drückt wie ein Kind. Schließlich sind wir in unseren Gefühlen noch Kinder und behalten lebenslang kindliche Bedürfnisse – vor allem das nach Kontakt, Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit und Liebe. Dies ist bei Achtzigjährigen im Prinzip nicht anders als bei einem Acht- oder Achtzehnjährigen. Schwanken wir nicht alle zwischen den Sehnsüchten eines Romantikers und den Ängsten des Physikers, der uns an den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik – das sogenannte Entropiegesetz – erinnert, wonach die Welt allmählich auf den Kältetod zusteuert? Nimmt nicht wirklich in unserer Welt die Wärme ab und mit ihr die Liebe, und ist – je rarer und kostbarer – sie nicht gerade darum das Begehrteste, weil gefährdetste Gut dieser Welt? Und doch ist sie unverlierbar. Die Zärtlichkeit, die von uns Menschen ausgeht und die wir weitergeben, ist vielleicht das kleinste Teilchen von der Kraft, die alles vereint, uns Menschen und das Leben. Auch von der Ahnung der göttlichen Liebe steckt etwas in unserer Zärtlichkeit. Sie hat unsere Welt in unbeschreiblicher Sinnlichkeit erschaffen und läßt sie an jedem Tag und in jedem Frühling neu erblühen. Der zärtliche Gott hört nicht auf, uns zu suchen und zu ersehnen. Dieses Suchen und Sehnen hat er auch uns ins Herz gegeben. Prof. Dr. Ulrich Beer ist Honorarprofessor für Kulturanthropologie an der Universität Cremona/Italien und war sachverständiger Berater der Fernsehsendung „Ehen vor Gericht“. Soeben erschien sein neuestes Buch „Meine Lebens-Geister“ im Centaurus-Verlag, Herbolzheim. Foto: Gustav Klimt, Danae, Öl auf Leinwand (1907/08): Der Wert der Zärtlichkeit besteht in einer Mischung aus sinnlicher Erfüllung und Sehnsucht