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Marc Jongen, ESN Fraktion

Unser sprachlicher Zeitgenosse

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Gottfried Benn hat längst Eingang in das lyrische Standardrepertoire der Gegenwart gefunden, heute schockiert er kaum noch jemanden, wie es zu Zeiten der Veröffentlichung seiner frühen Werke war, als er ganz neue Klänge in die deutsche Lyrik einbrachte und prägend für den Expressionismus war. Inzwischen steht er unangefochten ganz oben auf der Liste der deutschen Jahrhundertdichter, etwa in der großangelegten, in den Ergebnissen überraschenden Umfrage der renommierten Zeitschrift Das Gedicht von 1999 (Primus der internationalen Dichter war übrigens Ezra Pound; also gleich zwei politisch gern verdächtigte Literaten). Die große Stuttgarter Benn-Gesamtausgabe in acht Bänden ist jüngst abgeschlossen worden, womit nun mehr als bisher verläßliches Arbeiten möglich ist. In Bremen widmet sich die Gottfried-Benn-Gesellschaft Leben und Werk des Dichters, ein Symposion zu Benn wird die Gesellschaft im Sommer veranstalten (näheres zu Gesellschaft und Symposion im Internet unter www.gottfriedbenn.de ). Die Benn-Gesellschaft legte kürzlich auch den ersten Jahrgang ihres Jahrbuchs vor, der in Benns Hausverlag Klett-Cotta, Stuttgart, erschienen ist. Der Band steht unter dem Motto „Begegnungen“ und vereint 15 Beiträge zu Benns Begegnungen mit Astrid Gehlhoff-Claes, Erhard Hürsch, Oda Schaefer, Ilse Benn, Ina Seidel, Johannes R. Becher, Julius Evola und Leni Riefenstahl. Interpretationen beschäftigen sich mit dem Gedicht „Verlorenes Ich“, mit dem „Problem des Spiels“, mit Benn als Schüler des Frankfurter (Oder) Friedrichs-Gymnasiums und der Benn-Rezeption in Frankreich. Joachim Dyck wartet mit einem „Glücksfund auf dem Dachboden“ auf: Benns erster handgeschriebener Lebenslauf, den der 17jährige 1903 verfaßte und der im Band auch als Faksimile abgedruckt ist. Alles keine Sensationen, aber von einer sympathischen Vielseitigkeit, die dem Benn-Freund Freude bereitet. Merkwürdig, daß nur einer der im Band enthaltenen Nachdrucke, Wolfgang Buhls Gedicht „Gottfried Benn. Abgangslicht“ (1953), als Zweitverwertung ausgewiesen wird. Kein Hinweis auf den Erstdrucksort der wundervollen Erinnerungen Astrid Gehlhoff- Claes‘, die zuerst in ihrem Band „Inseln der Erinnerung“ erschienen, kein Hinweis darauf, daß Wolfgang Ignées vorzüglicher Beitrag über das Ehepaar Benn im August 2001 in der Stuttgarter Zeitung zu lesen war. Bei beiden Beiträgen liegen die Gründe für den Wiederabdruck auf der Hand, denn sie sind es wert, aber man möchte doch aus dem Buch und nicht aus dem eigenen Archiv erfahren, was neu und was alt ist, und wenn’s nur in einer unscheinbaren Fußnote wäre. Eine unkonventionell-spritzige, mitunter freche Annäherung an den „Doktor aus Berlin“ ist Jan Bürgers Sammelband „Ich bin nicht innerlich“, in dem fünfzehn Autoren der jüngeren Generation sich von Benn inspirieren lassen. Mit dabei, um nur die zwei bekanntesten zu nennen, sind der Namensgeber der „Generation Golf“, Florian Illies, und mit Alban Nikolai Herbst ein skandalträchtiger Autor (sein Roman „Meere“ darf nicht mehr verbreitet werden, ein Schicksal, das er mit Maxim Biller teilt). Den Texten gegenübergestellt sind Gedichte und Prosaauszüge aus den Werken Benns. Dadurch wird zweierlei markiert: oftmals die sprachliche Zeitgenossenschaft und ungebrochene Modernität Benns; aber auch der Kontrast – was hat mancher Text mit Benn zu tun, abgesehen von einer nebensätzlichen Nennung des Namens? Zu kritisieren ist bei diesem Band, der fast durchweg Lesevergnügen und Anregungen bietet, neben der geschmäcklerischen Titelbildgestaltung vor allem der irreführende Klappentexthinweis, daß Texte „aus dem Nachlaß von Gottfried Benn“ enthalten seien. Dies läßt Bennsche Erstdrucke erwarten, die aber gar nicht enthalten sind. Alle Benn-Zitate sind wohlbekannt und längst publiziert, stammen also genaugenommen natürlich aus dem Nachlaß, sind aber eben nicht aus dem Nachlaß selbst gewonnen, sondern aus dessen Edition – durchaus ein Unterschied. Zu guter letzt seien die bereits erwähnten „Inseln der Erinnerung“ empfohlen. Astrid Gehlhoff-Claes, 1928 geboren, promovierte 1953 mit der ersten Dissertation über Benns Lyrik. Benn liebte ihre Gedichte, „ich wollte, es wäre von mir“, hatte er über eines ihrer Gedichte geschrieben. Seine Briefe an Claes sind publiziert (JF 17/03). Die „Inseln der Erinnerung“ sind liebevolle Erinnerungen, oft mehr an Wege und Bäume denn an Menschen. Sie liebt die Natur, die Gänge mit ihrem Hund Noah. Der Rabe, der Papagei, der Delphin – ihnen hat sie Gedichte gewidmet. „Liebe schafft Stärke“, schreibt sie einmal. Doch auch Begegnungen mit Menschen beschreibt sie. Die erwähnte mit Benn; ein Sommer in Harvard, wo sie bei Henry Kissinger ihren späteren Mann kennenlernt; und die vielen Dichterlesungen, die sie in Gefängnissen organisiert; die stillen Abschiede von ihren Töchtern Rachel Gehlhoff und Undine Gruenter, die 2002 verstorbene Schriftstellerin in Paris. Es ist ein stilles, ein schönes Buch, geschrieben aus einer Einsamkeit, die so fern der Vereinsamung ist, denn sie bringt das Gedicht hervor. Gedichte wie „Der Schwan“, aus dem jene vier Zeilen stammen, die Benn auswendig wußte: „Morgens starr‘ ich auf die stumme Mauer / und der Tag beginnt sein dunkles Spiel. / Glück ist ein Kristall aus Traum und Trauer, / ist ein Trank von Tränen schwer und kühl“. Joachim Dyck, Holger Hof und Peter D. Krause (Hgg.): Benn Jahrbuch 2003. Klett-Cotta, Stuttgart 2003, 264 Seiten, 24 Euro Jan Bürger (Hg.): Ich bin nicht innerlich. Annäherungen an Gottfried Benn. Klett-Cotta, Stuttgart 2003, 235 Seiten, 15 Euro Astrid Gehlhoff-Claes: Inseln der Erinnerung. Begegnungen und Wege. Grupello Verlag, Düsseldorf 2002, 101 Seiten, 12,80 Euro

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