Er ist nicht der Primas Germaniae, dieser Ehrentitel kommt bis heute dem Erzbischof von Salzburg zu, aber Kardinal Joachim Meisner gehört zweifellos zu den einflußreichsten katholischen Persönlichkeiten im deutschsprachigen Raum – und wahrscheinlich darüber hinaus: Keiner seiner Amtsbrüder in der Deutschen Bischofskonferenz, die jeweiligen Vorsitzenden des Episkopats eingeschlossen, hatte einen so direkten Draht nach Rom, zu den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI., wie der 94. Erzbischof von Köln.
Und keiner polarisierte bislang so wie der meinungsstarke Schlesier auf dem Stuhl des heiligen Maternus in der rheinischen Metropole.
Wer an Meisner denkt, hat schnell einen Polterer vor Augen: ein Kirchenfürst, den Zeigefinger empört gegen Politiker gereckt, die es mit dem „C“ im Parteinamen nicht ernst genug nehmen; ein kämpferischer Prediger wider Abtreibung und „Homo-Ehe“; ein Verfechter rigoroser moralischer Normen, der Widerspruch von Klerikern mit Versetzung oder Suspendierung ahndet. Doch es gibt auch ein anderes Bild: das eines witzigen, charmanten Plauderers, eines einfühlsamen Hirten der Kirche, der sich freut, wenn es ihm wieder einmal gelungen ist, eine Ehe zu retten; eines passionierten Sammlers moderner Kunst.
Einsatz für ungeborene Kinder
Gewiß, der Kardinal zählt zu den Mitgliedern des in einer auf Konsens und politische Korrektheit programmierten Gesellschaft nicht sehr großen Vereins für deutliche Aussprache. Er ist ein Unbequemer. Er scheut sich nicht, die Abtreibungspraxis den „täglichen, beschwiegenen Super-GAU“ zu nennen: „Wir steigen aus der Kernkraft aus, und die noch arbeitenden Meiler gehören zu den sichersten der Welt“, durch Schwangerschaftsabbrüche dagegen würden „jeden Tag mehr als zehn Klassenzimmer ausgelöscht“. Politiker verhielten sich bei diesem Thema „wie die drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“. Schon kurz nachdem er 1989 aus Berlin nach Köln wechselte, hatte Meisner angekündigt: „Ich kämpfe für die Gruppe, die keine Lobby hat; das sind die ungeborenen Kinder. Hier werde ich alles, was in meiner Macht steht, einsetzen.“ Daran hat er sich gehalten, das unerschrockene Wort und seine Freundschaft mit Johannes Paul II. und Benedikt XVI. waren seine „Macht“. Den Ausstieg der Bischöfe aus dem gesetzlichen System der Schwangerenkonfliktberatung hat er mit vorangetrieben.
Meisners kraftvolle, pointierte, Sprache („Deutschland hat den Faden des Lebens und damit die Nabelschnur zur Lebenssicherheit gerissen und gekappt“) gefällt freilich nicht jedem, selbst nicht allen Mitbischöfen, und aus dem grünen und linken politischen Lager wurde der Kardinal schon als „Haßprediger“ beschimpft. Joachim Meisner ist zu medienerfahren, um nicht zu wissen, welche Reaktionen seine zugespitzten, manchmal schroff wirkenden Aussagen auslösen, aber er nimmt das Risiko auf sich, als ein aus der Zeit gefallener Kirchenmann apostrophiert zu werden. Er will aufrütteln, die Gleichgültigen zum Nachdenken zwingen.
Symphatien des glaubenskonservativen Lagers
Deshalb genießt er die besonderen Sympathien des glaubenskonservativen Spektrums seiner Kirche. Das betont papsttreue Forum Deutscher Katholiken steht ihm näher als das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), das er verdächtigt, im Grunde genommen eine andere Kirche zu wollen. Er stört sich an den endlosen Debatten über Strukturveränderungen. Im „mangelnden Sündenbewußtsein“ sieht er eines der größten Defizite des heutigen Christentums: „Indem der Mensch sich selbst an die Stelle Gottes setzt, bestimmt er, was gut oder böse, was recht oder unrecht ist.“
Da ist er Papst Franziskus nahe, der von Sünde in einer provozierenden Offenheit spricht. Und die Glaubensprobleme der Menschen des 21. Jahrhunderts führt er zum großen Teil darauf zurück, „daß die Christen zuwenig beten, daß man sie nicht mehr beten sieht. Ohne Gebet aber wankt der Glaube und schwindet die Hoffnung“. Auch für den streitbaren Kölner Kirchenmann gilt: Aus dem Evangelium, der Frohen Botschaft, darf keine Drohbotschaft werden. Aber dafür sei es nicht nötig, sagt er, die Lehre von den letzten Dingen zu verschweigen.
Das klingt wie eine Mahnung an die kirchlichen Amtsträger. Die Kirche rede zu oft über die sozialen Verhältnisse und zuwenig über Tod, Gericht, Himmel und Hölle. In einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft fallen solche Positionen unter das Verdikt „reaktionär“. Wer predigt denn heute noch über die Hölle?
Theologen sollten das Schweigen lernen und ansonsten Gott loben
Selbst seitens der Theologenzunft bekam Meisner manches kritische Wort zu hören. Den Kardinal ficht das nicht an: Nicht den Gelehrten, sondern den Hirten habe Jesus seine Kirche anvertraut; die Theologen sollten, wie alle Christen, das Schweigen lernen und ansonsten Gott loben, „das ist unser Amt“. Das sind ungewohnte Töne in einer Zeit, in der das Herumdeuteln an den biblischen Schriften und der kirchlichen Tradition Konjunktur hat und eine „gefährliche Selbstsäkularisation“ (Meisner) angestoßen worden ist: ein Übergang von gemeinschaftlicher Glaubenspraxis zu einem oft falsch verstandenen individuellen Gewissensentscheid. Selbstverständlich, so der Kölner Erzbischof, sei das Gewissen letzte Instanz für einen Christen, aber es sei nur eine „Norma normata“, es habe sich an der Offenbarung Gottes zu orientieren und zu „normieren“. Schlagzeilen machte er, als er katholischen Schülern und Religionslehrern die Teilnahme an multireligiösen Feiern untersagte: eine klare Absage an das undifferenzierte „Wir beten doch alle zum selben Gott“-Geschwurbel.
Am 25. Dezember vollendet der streitbare Gottesmann sein 80. Lebensjahr. Papst Franziskus hat er bereits seinen Rücktritt angeboten. Meisners Ausscheiden bedeutet eine Zäsur. Es geht der Kardinal mit gesamtdeutscher Erfahrung aus der Zeit des Kalten Krieges. 1980 hatte der polnische Papst den 1933 in Breslau geborenen, nach der Vertreibung in Thüringen aufgewachsenen Theologen, der seit 1975 als Weihbischof in Erfurt amtierte, zum Bischof der damals geteilten Diözese Berlin bestellt („Ich habe dir das schwerste Bistum der Welt übertragen“) und ihm schon drei Jahre später die Kardinalswürde verliehen.
„Sehet, da kommt der Hirte, den kein Schaf hier wollte“
1988 setzte Johannes Paul II. seinen Bruder im Geiste gegen anfänglichen Widerstand des Domkapitels als Erzbischof von Köln durch; er transferierte ihn von der armen Berliner Diözese in eines der reichsten Bistümer der Welt. Das ging nicht ohne Verletzungen ab. Katholiken empfingen den neuen Metropoliten mit Spruchbändern: „Sehet, da kommt der Hirte, den kein Schaf hier wollte.“ Der so Abqualifizierte versprach, alles zu tun, „damit aus dieser Muß-Ehe eine Liebesheirat wird“. Ganz geglückt ist ihm das nicht.
Von seinen Ideen, spirituelle Aufbrüche zu fördern, bleibt unter anderem der Eucharistische Kongreß 2013 in Köln im Gedächtnis. Die Nachfolge-Diskussion wird das kirchenpolitische Jahr 2014 bestimmen. Der Kardinal hat sich Zurückhaltung auferlegt. Er will „keinen Laut in der Öffentlichkeit sagen“. Das tun andere um so mehr. Eine Initiative“ verlangt die Beteiligung von Priestern und Laien an der Entscheidung über den künftigen Erzbischof. Wie schon 1988/89 zeichnen sich neue „Kölner Wirren“ ab.
JF 52/13-01/14