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Reportage: Die Krim wird eingetaktet

Reportage: Die Krim wird eingetaktet

Reportage: Die Krim wird eingetaktet

Anti-Maidan-Kundgebung in Jalta
Anti-Maidan-Kundgebung in Jalta
Anti-Maidan-Kundgebung in Jalta Foto: Billy Six
Reportage
 

Die Krim wird eingetaktet

Die Krim wird russisch, und das merken die Bewohner nicht nur am Verzicht auf die Sommerzeit. Die meisten sind zufrieden mit der neuen Entwicklung. Aus Jalta berichtet Billy Six.
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Anatolij jubelt. Eine Überraschung. Die vergangenen Tage war der 29jährige Informatiker aus Jalta auf der Krim so wie die meisten seiner krimrussischen Landsleute: Ernsthaft, nüchtern und emotionslos. Doch während einer prorussischen Feier am Lenin-Denkmal bricht es aus ihm heraus: „Slava Rossija“, lang lebe Russland, ruft er in die Menge.

Rund 200 Zuschauer stehen am Nachmittag und Abend vor der kleinen Bühne. Die einen kommen, die anderen gehen. Alltag auf der mondänen Flaniermeile an der Schwarzmeer-Küste. „So sieht sie aus, die in Euren Medien beschriebene Weltkrise“, raunt mir ein in traditioneller Kosaken-Uniform gekleideter Rentner ins Ohr: Mädchen in roten Kleidern tanzen zur Volksmusik. Flaggen in „Weiß-Blau-Rot“ werden geschwenkt. Jung und Alt klatschen. Die Feierlichkeiten zur neuen Zeit werden auch nach dem Staatswechsel-Referendum am Leben gehalten.

„Bisher nur nutzlose Präsidenten“

Anatolij sieht die Stärke des russischen Präsidenten Putin als einen Garanten für die eigene Zukunft: „Er kann die Lokalregierung kontrollieren und Korruption bekämpfen.“ In seinem Leben habe er in der ostslawischen Welt ansonsten nur „nutzlose Präsidenten“ kennengelernt. Den abgesetzten Ukrainer Viktor Janukowitsch zählt er dazu.

Anatol am Familiengrab: typische Familiengeschichte aus dem Sowjetreich Foto: Billy Six
Anatolij am Familiengrab: typische Familiengeschichte aus dem Sowjetreich Foto: Billy Six

Eher ungewöhnlich für einen Krim-Bewohner: Den Kiewer „Maidan“ hat er mit Netzarbeit unterstützt. „Ich habe die Ukrainer für ihre Stärke und ihren Mut bewundert. Dafür, daß sie aktiv einen Wandel im Land angestrebt haben“, so der ethnische Russe. „Aber dann kamen Russophobie und Extremismus. Es ist offenbar geworden, dass die Zielrichtungen von Ukrainern und Russen unterschiedlich sind.“

Vor einigen Monaten, so sagt Anatolij, habe sich sein eigenes Denken verändert, nachdem Freunde ihm ein Buch des britischen Evolutionsbiologen und Atheismus-Aktivisten Richard Dawkins in die Hand gaben. „Mir ist aufgefallen, daß die Menschen unserer Gesellschaft sich stets von Feinden bedroht sehen. Ich glaube mittlerweile, daß diese Feinde nur eine Illusion in unserem Kopf sind.“

Grenzen, so Anatolij, müssten eingerissen werden. Als größtes Problem hat er das „Ich-bin-besser“-Gefühl ausgemacht, welches sowohl bei Russen, als auch Ukrainern vorhanden sei. „Meine Kultur stoppt mich heute nicht mehr, mit anderen zu reden. Die Unterschiede sind da, aber sie müssen nicht wichtig genommen werden.“

Stalin gilt nicht mehr als Verbrecher

In Gesprächen innerhalb der vielgereisten Familie hat er ausgemacht, daß das Nationalbewusstsein in den ehemaligen Sowjetrepubliken erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 entstanden sei. „Aber vergessen hatte seine Zugehörigkeit niemand.“ Die Völker im damals mit Abstand flächengrößten Reich der Erde seien nur durch die Idee des Kommunismus zusammengehalten worden. Eine Idee, die Anatolij für „politisch und ökonomisch gescheitert“ hält.

Und dennoch gibt es eine Geschichte in der Familienchronik, die den Atem stocken lässt: Ausgerechnet Sowjetdiktator Stalin sei von Großmutter Viktoria verteidigt worden, obwohl dieser politisch verantwortlich war am Mord der eigenen Mutter. Elisaweta, Anatolijs Urgroßmutter, sei 1937 von der Geheimpolizei abgeführt und erschossen worden. Das Kalkül: Als Mitarbeiterin des Postamtes von Jalta habe sie die Chance gehabt, Wissen zu sammeln. Der Verdacht, ein Staatsfeind sein zu können, reichte damals schon aus.

Befremdet von Homolobby

Dem Blutrausch der Ära Stalin (1927-1953) fielen Millionen zum Opfer. Anatolij: „Oma sagte immer, zur Sowjetzeit gab es kostenlose Bildung, freie medizinische Versorgung, keine Arbeitslosigkeit und stets die Sicherheit, was morgen sein wird.“ Der junge Mann, derzeit als Systemadministrator der Uni-Bibliothek tätig, verzieht keine Miene. „Stalin schuf die Grundlagen dafür. Unterdrückung und Terror helfen vielleicht, Leute zu regieren. Ich hoffe immer wieder, dass dies nicht stimmt, aber für dieses Land scheint es mir der Fall zu sein.“

Das staatliche Moskauer Meinungsforschungsinstitut WZIOM gab 2009 bekannt, 37 Prozent der Russen stünden dem Ex-Diktator positiv gegenüber, nur 24 Prozent negativ. Größte Gruppe: Der desinteressierte Rest.

Junge Frauen – selbstbewusst, ohne emanzipiert zu sein

Junge Studentinnen aus der Festland-Ukraine lächeln auf den Bänken der gepflegten Parkanlagen Jaltas darüber nur müde: „In einem solchen Land können wir nicht leben.“ Es passe zur russischen Mentalität, „eher traurig durchs Leben zu gehen und außer Arbeit (oder Familie) keinen Inhalt zu haben“. Andere Abweichler sind in der 80.000-Einwohner-Kleinstadt nicht anzutreffen.

Ein Kosake in Jalta, der die Annektion feiert Foto: Billy Six
Ein Kosake in Jalta, der die Annektion feiert Foto: Billy Six

Im fast drei Meter hohen „Palatka“, dem Zelt des „Anti-Maidan“ von Jalta, sind sich die jungen Aktivisten der „Samooborona“ sicher: Europa würde neben der „Schwulen-Lobby“ noch andere „seltsame Sachen“ bringen wie den Umstand, daß jeder Mann, der eine attraktive Frau nur anblicke, sich schon eine Anzeige wegen Belästigung einfange.

Während ihre Freundinnen abseits gelangweilt warten, verteilen die Anhänger der neuen Zeit Tee und Flugblätter – vor allem an interessierte Großmütter. Zeit spiele jetzt keine Rolle, sagen sie. Nur daß in Zukunft auf der Krim die gleiche Stunde schlage wie in Moskau. Seit Sonntag ist dies nun der Fall. Und künftig auch ohne „die lästigen Zeitumstellungen“ zwischen Sommer und Winter. Nach Sonnenuntergang werden Feuerwerkskörper gezündet. Wer will, betrinkt sich bis zum Umfallen. „Natürlich“, dieses deutsche Wort kennt man hier. Unabhängig von ihrem persönlichen Luxus lässt sich erahnen, was russische Geschäftsreisende meinen, wenn sie sagen: „Wir sind freier als ihr.“

Anti-Maidan-Kundgebung in Jalta Foto: Billy Six
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