BERLIN. Die Bundesregierung hat ihren Widerstand gegen eine Einstufung der Kernenergie als nachhaltige Technologie auf EU‑Ebene aufgegeben. Gemeinsam mit Frankreich will Deutschland künftig eine engere Zusammenarbeit bei der Förderung emissionsarmer Energien anstreben, berichtet die dpa. Grundlage ist ein Anfang Mai veröffentlichtes Papier, das einen deutsch-französischen „Neustart in der Energiepolitik“ ankündigt. Ziel sei eine Politik, „die auf Klimaneutralität, Wettbewerbsfähigkeit und Souveränität beruht“.
Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) betonte am Rande eines Treffens mit EU-Amtskollegen in Brüssel, es sei wichtig, „technologieoffen“ zu sein. Jede eingesparte Tonne CO2 sei ein Gewinn, sagte sie. Konkret sprach sich Reiche für die Förderung sogenannter kleiner modularer Reaktoren aus dem EU-Haushalt aus – nicht aber für Subventionen bestehender Atomkraftwerke. Diese gelten als flexiblere Alternative zu klassischen Großreaktoren, befinden sich jedoch noch in der Entwicklungsphase. Besonders Frankreich und Schweden treiben die Forschung voran.
Bundesregierung weiterhin gegen heimische Atomnutzung
In der EU-Taxonomie werden Technologien gelistet, die als klimafreundlich gelten und somit für Investitionen besonders attraktiv sind. Die Liste umfaßt neben Wind- und Solarenergie auch bestimmte Gas- und Atomkraftwerke. Frankreich hatte sich von Beginn an für die Aufnahme der Kernenergie eingesetzt, Deutschland brachte Gaskraftwerke in das Regelwerk ein. Die vorherige Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP hatte die Einbeziehung der Atomkraft in die Taxonomie noch abgelehnt.
Eine Rückkehr Deutschlands zur Kernenergie schließt jedoch auch die schwarz-rote Bundesregierung aus. Es gebe dafür einen gesellschaftlichen Konsens, sagte Bundesumweltminister Carsten Schneider (SPD). Anders Belgien: Das Parlament in Brüssel beschloß mit großer Mehrheit die Verlängerung der Laufzeiten bestehender Meiler und kündigte sogar den Bau neuer Reaktoren an. Hintergrund ist die Sorge um eine stabile Stromversorgung, die sich durch den Ukraine-Krieg verschärft hatte. In Deutschland äußerte sich Bundesumweltminister Schneider skeptisch über den belgischen Kurswechsel.
Nordrhein-Westfalen will gegen belgischen Atomplan vorgehen
Sein nordrhein-westfälischer Amtskollege, Umweltminister Oliver Krischer (Grüne), forderte nach dem belgischen Beschluß eine Umweltverträglichkeitsprüfung. Sein Bundesland werde in dem Verfahren eigene Sicherheitsinteressen geltend machen, so Krischer. In Belgien befinden sich die Kernkraftwerke Doel und Tihange. Letzteres liegt nur rund 60 Kilometer von Aachen entfernt. Deutschland hatte die Abschaltung dieser Anlagen wegen baulicher Mängel gefordert.
Unterdessen kursierte im April ein unionsinternes Positionspapier zur Wiederinbetriebnahme der sechs zuletzt stillgelegten deutschen Kernkraftwerke. Demnach sollten zunächst Betreiberunternehmen ihre Bereitschaft erklären, berichtete das Handelsblatt. Lehnten sie ab, könne der Bund einspringen – notfalls durch eine Bundesgesellschaft als Eigentümer. Der entsprechende Passus spiegele nicht die offizielle Fraktionslinie wider, sei aber der Fraktionsspitze bekannt. Die SPD lehnt eine Rückkehr zur Kernkraft weiterhin ab. (sv)