Sklaverei – wer denkt dabei nicht an die klassischen Bilder aus dem 19. Jahrhundert, von Schwarzen in Ketten auf den Baumwollfeldern am Mississippi? Doch heute? Und mitten in Europa? Im Juli dieses Jahres ergab eine Polizeirazzia in Brüssel, daß eine arabische Prinzenfamilie 17 Hausdiener monatelang als Sklaven gehalten und mißhandelt hat. Die afrikanischen und indonesischen Opfer wurden nahezu pausenlos zur Arbeit gezwungen und gegen Fluchtversuche scharf bewacht. Nur lassen sich Fälle wie dieser kaum in das standardisierte Schema der gängigen Geschichtsschreibung zwängen, denn die Täter sind keine weißen Plantagenbarone. Der deutsch-französische Kultursender Arte strahlte unlängst eine Dokumentation aus („Sklaven für den Orient“), die einer historischen Spur der Sklaverei nachging, welche vom wissenschaftlichen „Mainstream“ bislang kaum verfolgt wurde: dem innerafrikanischen Sklavenhandel. Der binnenafrikanischen Sklaverei fielen ebenso viele Millionen Menschen zum Opfer wie dem transatlantischen Sklavenhandel. Daß unsere Geschichtsbücher nur das Schicksal der schwarzen Sklaven unter der Knute weißer Farmer kennen, hat zwei Gründe. Erstens ist das europäische Publikum konservativ: Es will sehen und hören, was es erwartet, und nicht irritiert werden. Schwarze Sklavenjäger, die Schwarze an Araber verkaufen, passen nicht ins Bild. Zweitens boykottieren die nordafrikanischen und arabischen Länder nach Kräften die Aufarbeitung dieses Kapitels. Anhand archäologischer Funde ist Sklaverei schon in der Eisenzeit nachweisbar. Auch die dreitausend Jahre alten Keilschriften Mesopotamiens erzählen vom unbarmherzigen Schicksal Kriegsgefangener in der Sklaverei. Der antike Geschichtsschreiber Diodor berichtet im 1. Jahrhundert v. Chr., daß ein römischer Kaufmann in Gallien eine Amphore Wein gegen einen Sklaven tauschte. Auch Wikinger und Griechen fingen auf ihren Kriegszügen Menschen ein, um sie zu versklaven. Zeitweise waren über ein Drittel aller Einwohner Roms Sklaven. Seit der Spätantike wurde die Sklaverei in Mitteleuropa durch das System der Leibeigenschaft abgelöst. Reger Menschenhandel herrschte weiterhin am Mittelmeer, wo vor allem die Stadtstaaten Genua und Venedig profitierten. Bis dahin galt Sklaverei als moralisch vertretbar. Aristoteles meinte, „Barbaren“ (also alle Nichtgriechen) seien von Natur aus für die Sklaverei bestimmt. Da sie ohnehin dumm seien, komme ihnen ihr Sklavendasein sogar zugute, weil ihr Besitzer für sie das Denken übernehme. Woher hätten die griechischen Philosophen wie Aristoteles ohne Sklavenarbeit auch die Muße nehmen sollen, sich mit Höherem zu beschäftigen? Anders bei den Juden: Nach der Bibel befreite Gott das Volk Israels aus der Sklaverei der Ägypter. Da den Juden alle Menschen Gottes Ebenbild sind, wurde dieses Selbstverständnis auch auf Sklaven ausgedehnt: Die alttestamentarischen Gesetze verbieten Raub und Verkauf von Menschen und gestehen Sklaven dieselben Rechte zu, die für eigene Volksangehörige gelten. Diese Bestimmungen wurden ausdrücklich mit der Befreiung Israels aus der Sklaverei Ägyptens begründet und sollten ein Zeichen für alle übrigen Völker sein. In der Tat: Mit dem jüdisch verwurzelten Christentum setzte sich auch in Europa die Ansicht durch, daß Christen keine anderen Christen als Sklaven verkaufen oder halten sollen. Die Päpste mußten zwar oft mit Nachdruck daran erinnern, doch ab dem Spätmittelalter nahm die Sklaverei deutlich ab. Von da an dauerte es nur noch bis 1713, bis Preußen als erster Staat Europas die Sklaverei offiziell abschaffte. Doch nun ging der Menschenhandel zwischen Afrika und Arabien erst richtig los! Jahrhundertelang waren Türken und Araber schon in Europa auf Sklavenjagd gegangen, zum Beispiel im Kaukasus. Die Expansion des Islam brauchte den endlosen Nachschub an Arbeitskräften. Prunkpaläste und Staudämme sind nicht vorstellbar ohne massiven Sklaveneinsatz. Rund eine Million Europäer marschierten dafür in die Sklaverei; ihre Spur verliert sich im Sand der Sahara. Doch Europas Aufstieg blockierte die Handelswege für arabische Menschenräuber – sie wichen verstärkt nach Afrika aus. Der innerafrikanische Sklavenmarkt erlebte eine Blüte. Als Zwischenhändler dienten schwarze Sklavenjäger. Sie lieferten – die Araber kauften. Für schwarze Stämme war der Menschenfang eine lukrative Möglichkeit, Kriegsgefangene aus den dauernden Fehden zu Geld zu machen oder sich mißliebige Rivalen um Weidegründe und Wasserquellen vom Hals zu schaffen. Mehr als zehn Millionen Afrikaner wurden als lebende Ware auf den Sklavenmärkten von Kairo, Bagdad, Mekka oder Istanbul verhökert. Rund ein Viertel erreichte diese Stationen gar nicht erst, sondern starb an den brutalen Strapazen des Transports. Auf die männlichen Sklaven, die den Weg überlebten, wartete der nächste Schrecken: die Kastration! Rund 70 Prozent der Opfer verbluteten dabei. Kein Wunder, daß der Preis für „Eunuchen“ extrem hoch war. Einige Zentren, zum Beispiel im Sudan, hatten sich regelrecht auf Eunuchen spezialisiert. Fotos britischer Reisender von 1880 zeigen verängstigte schwarze Kinder mit schweren Halsketten – niemand würde heute darauf tippen, daß diese Bilder aus Kairo stammen, so sehr gleichen sie den typischen Aufnahmen aus dem Süden der USA. Doch anders als die Baumwoll-Sklaven zu Tom Sawyers Zeiten existiert die Sklaverei innerhalb Afrikas bis heute! So hat beispielsweise der Zusammenbruch Somalias dem Sklavenhandel durch arabische Milizen Tür und Tor geöffnet. Auch der Sudan und Jemen spielen unrühmliche Hauptrollen. Kritiker werfen Menschenrechtsorganisationen vor, durch Freikaufaktionen den Sklavenhandel sogar noch zu begünstigen, indem sie einen finanziellen Anreiz für den Menschenraub schafften. Schon die Abschaffung der Sklaverei durch die Kolonialmächte verschlimmerte die Lage vieler Sklaven noch. Der Historiker Horst Gründer, Autor einer Chronik und einer ZDF-Doku über den Kolonialismus, erklärt der JUNGEN FREIHEIT: „Nachdem die Kolonialmächte die Sklaverei abschafften, kam es aufgrund von Absatzproblemen zu einem erheblichen Überangebot an Sklaven. Die Folge war eine grausame Verschwendung von Menschenleben.“ Im westafrikanischen Mauretanien wurde die Sklaverei bisher dreimal verboten: 1905 von der französischen Kolonialmacht, 1965 nach der Unabhängigkeit und 1981 auf Druck der internationalen Gemeinschaft. Geändert hat sich nichts. Unter den vier Ethnien des Landes haben die maurischen Berber die Macht und diskriminieren die dunkelhäutigen Völker. Doch auch die schwarzen Stämme beteiligen sich bis heute am Sklavenhandel. Zwar besteht auch hier ein Gesetz gegen Sklaverei, andererseits erklärt die mauretanische Regierung gebetsmühlenartig, es gebe keine Sklaverei in ihrem Land. Ein Gesetz gegen etwas, das es gar nicht gibt? Das Gesetz sei auch „nur auf Druck gewisser Leute“ entstanden, „die dem mauretanischen Staat schaden wollen“, erklärt ein Araber im Interview mit dem Arte-Kamerateam. Offiziell heißt es: Es gibt keine Sklaven mehr, sondern höchstens freigelassene Ex-Sklaven, die aus reiner Gewohnheit oder familiärer Bindung bei ihren ehemaligen Herren leben! Laut Gesetz ist Sklaverei eine Straftat: Bei Anzeige müßte die Staatsanwaltschaft ermitteln. Aber Kläger sucht man in Mauretanien vergeblich. Von allen nachgewiesenen Fällen von Sklaverei hat bisher kein einziger juristische Folgen nach sich gezogen. Notfalls bestechen die Sklavenhalter Behörden mit Schafen, aber oft ist dies nicht mal erforderlich: Es gibt keine Fußketten mit Eisenkugeln – die Sklaven werden mit religiösen Drohungen in Angst versetzt. Wer sich auflehnt oder flieht, kommt in die Hölle. Das wirkt – manche Sklaven müssen regelrecht gegen ihren Willen befreit werden. Die wichtigste Institution im Kampf gegen die Sklaverei in Mauretanien ist SOS Esclave. Aber SOS Esclave hat ein Problem: Wie soll jemand, der irgendwo auf dem Land als Arbeitstier gehalten wird, erfahren, daß es in der fernen Hauptstadt eine Hilfsorganisation gibt – und wie soll er dorthin kommen? Esclave schätzt, daß in den von Mauren bewohnten Regionen knapp die Hälfte der Bevölkerung in sklavereiähnlichen Verhältnissen lebt. In Zahlen sind das rund eine halbe Million. Manchmal sind diese Abhängigkeiten äußerlich kaum zu erkennen: So vermittelt der „Herr“ seinem Sklaven beispielsweise eine normale Arbeitsstelle mit allen Papieren – nur läßt er den Lohn auf sein eigenes Konto überweisen. Der schwarze Sudanese Francis Buk wurde als Siebenjähriger von muslimischen Murahaliin-Milizen gefangen und an seinen Herrn Abdullah verkauft. Zehn Jahre schuftete er unter ständigen Mißhandlungen als Sklave. 1996 gelang ihm die Flucht. Statt in die Freiheit schickte ihn das sudanesische Regime „wegen Lügen gegen die Regierung“ ins Gefängnis. Sein Verbrechen: Er hatte gegen die Sklaverei geklagt. Nach der Haft gelangte er über Kairo in die USA. Von dort engagiert er sich seitdem gegen afrikanische Sklavenhalter. Allerdings nicht mit viel Erfolg. Unesco-Mitarbeiter Ali Moussa Lye klagt: „Die Sache ist sehr delikat. Es herrscht das Bewußtsein: Schuld? Nicht bei uns! Das Böse, meint man, kann nur aus dem Westen kommen.“ Nach Lyes Meinung ist das schwarz-weiße Täter/Opfer-Klischee für die Schwarzafrikaner ein identitätsstiftender Mythos, den die ewig rivalisierenden schwarzen Völker Afrikas benötigten, um die Einheit im Kampf für die Unabhängigkeit herzustellen. Wer das Schweigen brechen will, hat keine Chance. Das mußte auch der schwarze Historiker Ibrahim Thioub erfahren. Als er das Reizthema auf einer Konferenz in Dakar ansprach, wurde er gar von schwarzen Teilnehmern als „Rassist“ beschimpft. Doch Kritiker wie der schwarze Anthropologe Tidiane N’Diaye lassen sich nicht beirren und lüften den Schleier über dem verdrängten Völkermord. „Schwarze wurden von den islamischen Gelehrten als minderwertig dargestellt und Tieren gleichgesetzt. Es war ein Rassismus wie in den USA“, erklärt N’Diaye, und die Arabische Liga kommentiert schlicht: „Wir sind übereingekommen, dieses schmerzhafte Kapitel nicht aufzuschlagen.“ Warum will das in Europa niemand hören? Thioub meint: „Es scheint, als wollten die weißen Europäer die Reue für die Sklaverei unbedingt für sich allein beanspruchen.“ Aber auch das, so sein Fazit, sei eine Form von Rassismus. Abbildung: Sklavenmarkt in Kairo (Maurycy Gottlieb, 1877): Rund eine Million Europäer wurde im Mittelalter versklavt. Doch Europas Aufstieg veränderte die Situation – nun wichen die Menschenräuber nach Afrika aus Stichwort: „Le Génocide voilé“ von Tidiane N’Diaye: In seinem Buch „Le génocide voilé“ („Der verschleierte Völkermord“) zieht der franko-senegalesische Anthropologe und Historiker Tidiane N’Diaye eine erschreckende Bilanz des über 13 Jahrhunderte andauernden muslimischen Sklavenhandels mit Schwarzafrika. Die Zahl seiner Opfer beziffert N’Diaye auf circa siebzehn Millionen. (Gallimard, Paris 2008, 254 Seiten, Abbildungen s/w, 21,50 Euro)