Das, was die Kosovo-Albaner unbeirrt seit Jahren und Jahrzehnten verfolgen, worin sie die Vereinigten Staaten seit dem Kosovo-Konflikt der Jahre 1998/1999 unterstützen und was die in der Kosovo-Frage gespaltene Europäische Union nur mitverwaltete, ist Wirklichkeit geworden – die Unabhängigkeit des Kosovo.
Nein, sie ist nur Wirklichkeit geworden in den Köpfen der albanischen Mehrheit des Kosovo, die die Abtrennung von Serbien am vergangenen Sonntag einseitig bekanntgab. Solange Serbien sein Einverständnis nicht erklärt hat, auf einen wesentlichen Teil seines Staatsgebietes zu verzichten, gehört das Kosovo weiterhin nach geltendem Völkerrecht zu Serbien. Die UN-Resolution 1244 aus dem Jahre 1999 stellt unmißverständlich fest, daß die Provinz Kosovo Teil der Bundesrepublik Jugoslawien ist, und da diese bald nicht mehr existierte, des Rechtsnachfolgers Serbien. Damit ist die einseitig erklärte Abtrennung, mag sie auch von den Vereinigten Staaten und in deren Schlepptau von vier EU-Staaten anerkannt worden sein, nach Meinung serbischer und russischer Politiker staatlich sanktionierter Separatismus, ein flagranter Bruch des Völkerrechts, der unvorhersehbare Konsequenzen für die internationale Staatengemeinschaft haben kann.
Jeder Separatist, betonte Serbiens Außenminister Vuk Jeremić, werde sich auf diesen Fall berufen, so sehr Amerika und manche EU-Politiker auch darauf bestehen, daß das Kosovo nicht zum Präzedenzfall tauge. Nicht nur im georgischen Abchasien oder auf der Krim, auch in Katalonien und im Baskenland haben Minderheitenvertreter bereits nicht nur rhetorisch gefragt, warum der Fall Kosovo anders geartet sei als der ihrige. In Pritina, der Hauptstadt des Kosovo, waren am Tag der Unabhängigkeitserklärung Banner zu sehen, auf denen Gebiete auf dem Balkan genannt werden, in denen ebenfalls eine albanische Minderheit lebt – in Griechenland und in Mazedonien, zwei aus einer Reihe von Staaten, die wie Serbien Probleme mit ihrer albanischen Minderheit hatten bzw. befürchten und deshalb die einseitig erklärte Unabhängigkeit mehr als kritisch sehen. Die albanische Minderheit Mazedoniens, die dort fast ein Drittel der Bevölkerung stellt, brachte den daher labilen, (noch) mehrheitlich slawischen Staat an den Rand des Auseinanderbrechens.
Am Vorabend der Unabhängigkeit des Kosovo machten im Gebiet der Verwaltungsgrenze zu Serbien albanische Irreguläre von sich hören, die für den Fall, daß sich der Nordkosovo an Serbien anschließen sollte, eingreifen wollen. Der Norden, der Kreis Mitrovica, ist für den jungen Staat Kosova – so die albanische Bezeichnung – wegen der dortigen Bodenschätze wirtschaftlich interessant. Doch die serbischen Einwohner Mitrovicas haben nicht vor, das Schicksal ihrer Landsleute zu teilen, die in den letzten Jahren ihre Heimat zu Tausenden verlassen haben. Aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch wegen der Drangsalierungen durch ihre albanischen Nachbarn gingen sie nach Montenegro und Serbien – und konnten trotz vollmundiger Versprechen der internationalen Gemeinschaft bis heute nicht zurückkehren.
Die UN-Resolution 1244 von 1999 stellt unmißverständlich fest, daß die Provinz Kosovo Teil der Bundesrepublik Jugoslawien ist beziehungsweise des Rechtsnachfolgers Serbien. Die einseitig erklärte Abtrennung ist ein eklatanter Bruch des Völkerrechts.
Der serbische Enthüllungsjournalist Marko Lopuina, aber auch eher nüchterne Geister wie der Experte für organisierte Kriminalität, Xavier Rofr, nennen das Kosovo schlicht einen Mafia-Staat, der sich aus eigenen Kräften nicht erhalten kann, es sei denn durch die blühende Schattenwirtschaft. In diesem Umfeld ist es den wenigen heute verbliebenen Serben nicht zu verdenken, daß sie dem Kosovo, der „Wiege des Serbentums“, den Rücken kehren wollen. Am Vorabend der Unabhängigkeit feierte der höchste orthodoxe Würdenträger des Kosovo, der alte, aber ungebeugte Bischof Artemije, in Mitrovica einen Gottesdienst. Artemije hatte Slobodan Miloević ebenso opponiert wie jenen kosovo-albanischen Radikalen, die ein Kosovo anstreben, in dem es keine Minderheiten mehr gibt. Er entging 1999 nur knapp einem Mordanschlag. Von diesen Leuten, sagte Artemije, wolle er sich und sein Volk nicht aus dem vertreiben lassen, was Serbien war, ist und sein wird.
Die heute tonangebende politische Klasse des Kosovo sei geläutert, heißt es vielfach. Sie bekenne sich zu demokratischen Standards, sie achte die Rechte der Minderheiten, ja sie strebe eine Mitgliedschaft in EU und Nato an. Die Vorsitzende des serbischen Kosovo-Koordinationszentrums, Sanda Raković-Ivić, hält das für leeres Geschwätz. Welche Rechte sollen geachtet werden, wenn die Minderheiten im Kosovo auf ein Häuflein zusammengeschmolzen sind? Welche Kulturgüter sollen geschützt werden, nachdem seit 1999 Hunderte von orthodoxen Kirchen der Zerstörungswut zum Opfer gefallen sind? Serbische Intellektuelle sehen vor diesem Hintergrund die Stadt Kosovska Mitrovia als „Bollwerk der Freiheit“. Dort werde der souveräne, international anerkannte Nationalstaat Serbien gegen eine globalisierte, anationale Welt verteidigt, die Serbien seine „Herzkammer“ aus dem Leibe reißen will.
Die Unabhängigkeit sei zwingend, meinte der ehemalige UN-Sondergesandte Richard Holbrooke, weil Serbien ohnehin seit 1999, nämlich seit dem Einmarsch der Nato-Truppen, keinen Einfluß mehr auf die Provinz habe. Das ist schlicht Augenwischerei. Belgrad wurde aus der Innenpolitik des Kosovo ferngehalten, obwohl es formal das Recht gehabt hätte, Polizei- und Verwaltungsaufgaben im Kosovo zu übernehmen. Man fürchtete den Widerstand der Kosovo-Albaner. Andere mutmaßen, weil der Fahrplan Richtung Unabhängigkeit feststand, wäre eine Beteiligung Serbiens einfach nicht opportun gewesen, obwohl das einer Düpierung des demokratischen Serbien gleichkam.
Serbiens Premier Zoran Djindjić hatte in einem offenen Brief Washington, London und Brüssel angefleht, eine Lösung der Kosovo-Frage zusammen mit Serbien zu suchen – ohne Erfolg. Die serbischen Unterhändler hatten sich in den Verhandlungen über den künftigen Status des Kosovo bis zur Selbstaufgabe kompromißbereit gezeigt. Sie hatten alles durchdekliniert, was es an historischen und aktuellen Vorbildern für eine allseits akzeptable Lösung geben könnte. Die Serben standen gleichwohl als Bremser fest, weil als akzeptable „Kompromißlösung“ nur das galt, was der von der US-Regierung gestützten albanischen Seite akzeptabel erschien – die Unabhängigkeit. Auch der diplomatische Vorstoß des EU-Vermittlers Wolfgang Ischinger, sich von dem Alles-oder-nichts-Prinzip der albanischen Unterhändler zu lösen, konnte daran nichts mehr ändern.
Dieses Prinzip beherrscht die Politik der albanischen Minderheit Ex-Jugoslawiens, die zweifellos von den Serben Schlimmes zu erdulden hatte. Doch im Umkehrschluß alles, was sie gegen Serbien unternahm, pauschal als Freiheitskampf zu werten, wie das (kosovo-)albanische Historiker wie Hakif Bajrami und ihre westlichen Sympathisanten Noel Malcolm oder Stephen Schwartz tun, vereinfacht das Problem unzulässig. In der Insistenz, sich als das ewige Opfer serbischer Unterdrückung zu sehen, stecke Methode, behauptet der serbische Romancier Dobrica Ćosić, der sich am serbisch-albanischen Konflikt schriftstellerisch buchstäblich abgearbeitet hat. So jung der albanische Nationalismus sei, so konsequent habe er sein Ziel einer Vereinigung aller albanisch besiedelten Gebiete auf dem Balkan verfolgt.
1912 wurde der Staat Albanien geschaffen, der aber auf das Kosovo verzichten mußte, das Serbien zugestanden wurde. Die Folge war ein jahrzehntelanger „Freiheitskampf“ der unter serbische Herrschaft geratenen Albaner, der für die Serben nichts anderes als Terrorismus war und den auch die größten Zugeständnisse Tito-Jugoslawiens nicht beilegen konnte. Die Verfassung von 1974 reduzierte den Einfluß Serbiens auf die Provinz Kosovo drastisch und gab der albanischen Nomenklatura im Kosovo weitestgehende Freiheit, was aber an den stereotypen Klagen über die Bevormundung durch Belgrad nichts änderte. Man wollte keine Integration in den Staat Jugoslawien, man wollte um jeden Preis den Separatismus, die Unabhängigkeit. Diese Unabhängigkeit aber wird nicht an der Grenze zu Albanien enden. Niemand kann ernsthaft glauben machen, auch nicht die unabhängigkeitstrunkenen Kosovaren, daß eine Grenze, die ein und dasselbe Volk trennt, lange Grenze bleibt – was das Meer albanischer Fahnen, das man am Unabhängigkeitstag überall im Kosovo sah, schlagend beweist.
Und damit öffne sich die Büchse der Pandora, wie Belgrad, Moskau und Peking beschwören. Sie kritisieren, daß die Staaten, die das Kosovo als souveränen, neuen Staat anerkennen, nicht nur einem militanten Separatismus einen Freibrief ausstellen, sie bestrafen auch einen souveränen Staat. Viele Serben empfinden es als perfide Taktik, daß ihr Land, nur weil es auf seinem Anspruch auf das Kosovo besteht, so dargestellt wird, als hätte es die friedliche Ablösung Miloevićs niemals gegeben, als wäre Serbien nicht seit dem Jahr 2000 eine Demokratie, die sich an europäische Standards hält – ganz im Gegensatz zu den albanischen Repräsentanten des Kosovo, die seit 1999 nur Lippenbekenntnisse zu den Minderheitenrechten abgeben. Ein Extremfall, keineswegs die große Ausnahme, als die sie gerne dargestellt wird, waren die Ausschreitungen im März 2004, als zahllose Serben, Roma, Ashkali, Gorani und andere Minderheiten des Kosovo mißhandelt, vertrieben und getötet worden waren.
Niemand kann glauben machen, auch nicht die unabhängigkeitstrunkenen Kosovaren, daß eine Grenze, die ein und dasselbe Volk trennt, lange Grenze bleibt – das Meer albanischer Fahnen am Sonntag überall im Kosovo spricht eine deutliche Sprache.
In serbischen Internetforen und politischen Zeitschriften unterstellt man Amerika zumindest strategisches Denken – das Kosovo als Brückenkopf zur ölreichen muslimischen Welt. Europa gilt jedoch nur als Handlanger Wa-shingtons, als ein großer Wirtschaftsraum ohne Vision und Tradition, der seine christliche Seele verkauft hat, wie serbisch-orthodoxe Kleriker beklagen. Wenn aus Brüssel gefordert wird, Serbien müsse seinen „Weg nach Europa“ fortsetzen, wird das dort zu Recht als Unverschämtheit empfunden. Wir haben Europa verteidigt, als sich durch den Balkan eine ewig blutende Grenze zog, die das christliche Europa von einer orientalischen Despotie trennte, betonen serbische Intellektuelle wie Duan Bataković, Matija Bečković oder Dobrica Ćosić – was in Zeiten der proklamierten Verbrüderung von Christen und Muslimen als reaktionäres, ja fundamentalistisches Stereotyp gilt. Dabei übersieht man bewußt die Verfolgung der christlichen kosovo-serbischen Minderheit, die von KFOR-Soldaten vor dem albanischen Nationalismus geschützt werden muß, der mit dem radikalen Islam ein unheiliges Bündnis eingeht. Mag der Kosovo-Islam auch prinzipiell versöhnlich sein, die Unabhängigkeit wird auf jeden Fall jene radikalen Elemente stärken, die nach Erkenntnissen serbischer Insider seit langem im Kosovo tätig sind.
Am vergangenen Sonntag wurde der albanische Nationalismus mit einer Staatsgründung belohnt – ein paradoxer Vorgang, da überall vom Aufgehen der Nationalstaaten im größeren Europa die Rede ist. Man war 1999 angetreten, den Miloević-Nationalismus zu bekämpfen, und tauschte ihn gegen seine albanische Spielart ein. Den Preis darf das in seiner nationalen und kulturellen Identität tief gedemütigte Serbien zahlen, aber auf lange Sicht auch Europa. Der serbische Thronfolger, Aleksandar Karadjordjević, nannte den 17. Februar 2008 einen Tag der Schande, an dem Europa seine Geschichte und das Völkerrecht in den Schmutz trat, und gezeigt hätte, daß es den „Virus seines eigenen Niedergangs“ in sich trage.
Das Amselfeld, serbisch „Kosovo polje“, ist nach serbischer Geschichtstheologie der Ort, wo sich Treue und Untreue zum Heiland und Erlöser der Welt beweisen. Serbien hat verkündet, niemals die Unabhängigkeit anzuerkennen, und hat damit den Weg der Treue gewählt. Der „Raub des Kosovo“ durch terroristische Separatisten und ihre internationalen Hintermänner ist für jenes Serbien, dem der Kosovo-Mythos etwas bedeutet, ein Unrecht, das sich so oder so gegen seine Urheber wenden wird.
Foto: Serbisches Denkmal für die Schlacht auf dem Amselfeld 1389, Kosovo Polje: Der Raub des Kosovo durch terroristische Separatisten und ihre internationalen Hintermänner ist für jenes Serbien, dem der Kosovo-Mythos etwas bedeutet, ein Unrecht, das sich so oder so gegen seine Urheber wenden wird