Macht kaputt, was euch kaputtmacht“ – so lautete eine bekannte Parole der deutschsprachigen Autonomen und der Sponti-Szene seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ehe, Familie, Staat, Erziehung, Schule, Militär – all dies galt es zu überwinden auf dem „langen Marsch durch die Institutionen“, auf den sich seinerzeit die 68er zu ihrer und unser aller Befreiung von Repression durch Kapital und „Schweinesystem“ begaben. Führt die Zerschlagung der Institutionen aber wirklich zu mehr Freiheit oder doch nur zu neuen Formen der Unfreiheit? Im Leben jener Völker, die von uns gerne „Naturvölker“ genannt werden, spielen bestimmte Reifefeiern eine große Rolle, die den Übergang vom Kind zum Erwachsenen markieren. Erst durch die Riten, die im Rahmen dieser Feiern stattfinden, wird ein Mensch zum vollwertigen Mitglied des Gemeinwesens. Der Wandel vom „Naturzustand“ des Kindes zum „Kulturzustand“ des Erwachsenen wird oft von Torturen und körperlichen Deformierungen begleitet – Beschneidung, Tätowierung, Zähneausschlagen oder Zurechtfeilen von Zähnen. Die Initianden sollen, allen sichtbar, als neue Menschen aus den Zeremonien hervorgehen. In seinem Buch „La société contre l’état“ deutet der Ethnologe Pierre Clastres die Narben, die die Initiationsriten auf den Körpern der jungen Leute hinterlassen, als Schrift, mit welcher der Text des ungeschriebenen „Stammesgesetzes“ unauslöschlich auf der Haut der Stammesmitglieder niedergeschrieben wird. Der Körper wird zum Gedächtnis, niemand darf das Gesetz vergessen, dem das Gemeinwesen gehorcht, und die Initiationsriten sind die Schule, in der es erlernt wird. Keine „primitive“ Gesellschaft, kein sogenanntes Naturvolk erläßt seinen Mitgliedern solch eine Schule. Nirgendwo dort wird auf die Heraufbildung der jungen Leute zu Kulturmenschen verzichtet. Das „Unbehagen an der Kultur“ hat dagegen Tradition im Abendland. Nicht erst Siegmund Freud hat es diagnostiziert, schon Immanuel Kant (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784) klagte: „Wir sind civilisiert bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit.“ Vergil flüchtete in die arkadische Welt seiner Eklogen. Die Idee einer utopisch-idyllischen Gegenwelt, frei von den Zwängen der Kultur, scheint so alt zu sein wie das Abendland selber. „Kultur“ wird ja nicht umsonst von dem lateinischen Wort cultura, Ackerbau, abgeleitet. Auf Pflanzung gerichtete Sorgfalt, Erhaltung eines Denkmals, Pflege einer Bekanntschaft, Pflege und Verbesserung der Fähigkeiten – all dies schwingt im Wort cultura mit. Ohne Vernunft, Einsicht, Bildung und Erziehung – ohne Mühe – gibt es keine Kultur. Mühe erzeugt jedoch Unbehagen. Der Bedeutungsumfang von cultura überschneidet sich in hohem Maße mit jenem von cultus und religio, denn cultus bezeichnet nicht nur die Anbetung und Verehrung einer Gottheit oder die Erfüllung einer Verpflichtung, zumal einer religiösen, sondern dieser Begriff bezieht sich auch auf das bebaute Land, das gepflegte Äußere einer Person oder die Verbesserung der Lebensumstände. Ohne die Verwurzelung in einer tieferreichenden Religion läßt sich auf die Dauer keine Ethik begründen, auch nicht das auf Pflege und Kultivierung im weitesten Sinne gerichtete Handeln. Diese Lektion haben jene Völker verstanden, die mit dem irreführenden Begriff „Naturvölker“ bezeichnet werden; aber auch jene Politiker, die für die Einführung des Gottesbezugs in einer vielleicht doch noch einmal kommenden europäischen Verfassung streiten. Der Verzicht auf cultura, cultus und religio schafft eine neue Welt, aber keine schöne und schon gar keine bessere. Der Grund dafür liegt in einer fundamentalen Gegebenheit des Menschseins, über die die Philosophen des Abendlandes seit der Antike nachdenken. Wer die Welt verändern will, verändert die Erziehung – oder schafft sie ab. Das Ergebnis ist aber keine bessere Welt – dies dämmert seit einiger Zeit auch manchen Exponenten der antiautoritären Erziehung von ehedem. Im Gefolge der „Kulturrevolution“ von 1968 mit ihrem Versuch der Denunzierung traditioneller Werte des Gemeinsinns und der für das Zusammenleben so wichtigen „Sekundärtugenden“ wie Fleiß, Pünktlichkeit, Höflichkeit oder Selbstbeherrschung wurde „Erziehung“ zu einem Unwort. Es wurde durch „Selbstverwirklichung“ ersetzt, und unter diesem Panier trat die seinerzeit rebellische Jugend an, eine schöne, neue und vor allem rote Welt zu schaffen. Für die Kinder der 68er, denen die Rolle des Bannerträgers dieser Zukunft zugedacht war, zählte folglich kein Gemeinwohl, auch kein rotes, sondern nur „mein Wohl“, wie Andreas Püttmann vor mehr als zehn Jahren feststellen konnte. „Antifaschistische“ Eltern mußten es hinnehmen, von ihren Sprößlingen als „linke Spießer“ geortet zu werden. Der Verzicht auf cultura, cultus und religio schafft eine neue Welt, aber keine schöne und schon gar keine bessere. Der Grund dafür liegt in einer fundamentalen Gegebenheit des Menschseins, über die seit der Antike die Philosophen des Abendlandes nachdenken, die aber auch der Konfuzianismus kannte. „Welcher Mensch kann sich an Sehschärfe mit Adlern und Geiern messen?“ fragt Kirchenvater Augustinus im 15. Kapitel des 8. Buches von „De Civitate Dei“. Viele Tiere, setzt er hinzu, übertreffen uns Menschen „an Schärfe der Sinne, leichtfüßiger und schneller Bewegung, Körperkraft und Dauerhaftigkeit des Leibes“. Aber durch unsere Vernunft und Einsicht sind wir besser als alle Tiere. Daß der Mensch im Vergleich mit dem Tier zwar ein „Mängelwesen“ sei, daß aber gerade darauf seine Kulturfähigkeit beruhe – dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die abendländische Geistesgeschichte, von Augustinus über Thomas von Aquin und Immanuel Kant bis zu Max Scheler und Arnold Gehlen. Dem Menschen fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Schutz gegenüber der Witterung, er besitzt keine natürlichen Angriffsorgane und verfügt nur über eine geringe Sinnenschärfe. Die lange Schutzbedürftigkeit während der Säuglings- und Kinderzeit macht ihn zu einem im höchsten Maße gefährdeten Wesen, das unter natürlichen Bedingungen eigentlich schon längst hätte ausgerottet sein müssen. Physische Unspezialisiertheit, organische Mittellosigkeit und der lebensgefährliche Mangel an echten Instinkten bilden einen Zusammenhang, den Gehlen „Weltoffenheit“ nennt. Sie macht den Menschen zu einem außerordentlich lernfähigen, handelnden und stellungnehmenden Wesen. Der Mensch kann die „Mängel“ seiner Konstitution, die unter natürlichen Bedingungen sein Überleben gleichsam unmöglich machen, zur Schaffung von Institutionen nutzen, die sein Überleben sichern. Im Schutz seiner Institutionen ist der Mensch an keine bestimmte natürliche Umwelt mehr gebunden, sondern er arbeitet die Natur zu einer ihm lebensdienlichen Kultur um. Der Mensch, so Gehlen, ist von Natur aus ein Kulturwesen. Da eine spezifische Kultur keine genetische Grundlage hat und nur die unspezifische Kulturfähigkeit genetisch bedingt ist, müssen Übung und Erziehung hinzutreten, um jene besonderen Fähigkeiten zu entwickeln, die dann als kulturgeprägtes Verhalten zutage treten. Alles Natürliche am Menschen kann nur durch kulturelle Einfärbungen sichtbar werden (Anthropologische Forschung, 1961). Die Ergebnisse der modernen humanethologischen Forschung bestätigen im Grundsatz, was die Philosophen immer schon gewußt und nur in anderen Worten ausgedrückt haben. Dieser Befund ist Rasseromantikern ein Ärgernis, die auch heute noch die Kultur eines Volkes auf seine genetische Ausstattung zurückführen wollen. Dergleichen ist leicht zu widerlegen. Um ein Beispiel zu geben: Asiaten und Indianer vertragen Alkohol in der Regel schlechter als Europäer, denn sie haben das Enzym Alkoholdehydrogenase, das zum Abbau von Alkohol notwendig ist, in geringeren Mengen im Körper. Diese Alkohol-Dehydrogenasedefizienz macht es plausibel, warum man Weinköniginnen eher bei den Eingeborenen von Rheinland-Pfalz findet als bei jenen der Präfektur Fukuoka. Daß Pfälzer Wein besser vertragen als Japaner, ist genetisch bedingt, nicht aber, daß sie Weinköniginnen wählen. Dieser charmante Brauch ist Teil einer Weinkultur, die aufgrund der genetischen Unterschiede zwischen Europäern und Asiaten an Rhein, Main und Mosel mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit entstehen und Fuß fassen konnte als in Japan. Wäre Kultur in ihren Inhalten und deren Ausprägungen genetisch bedingt, bräuchte es keine Erziehung zu geben. Durch Erziehung – also Kultur – kann der Mensch jedoch im Sport sogar seine Natur als „Mängelwesen“ überwinden: Kein Tier macht nach, was der „Ironman“ auf Hawaii uns vormacht. Die Kultur setzt auch die Ziele der Bereitschaft zu körperlicher Ausdauer. Schlägt man dem Menschen dagegen die Stützen weg, die die Institutionen dem Handeln leihen, dann folgt der Rückgang in die fundamentale Unsicherheit und Ausartungsbereitschaft eines nicht durch sichere Instinkte geleiteten Antriebslebens. Wenn die äußeren Sicherungen und Stabilisierungen entfallen, die in festen Traditionen liegen, dann wird unser Verhalten entnormt, affektbestimmt, triebhaft, unberechenbar und unzuverlässig. Ohne Traditionen und die nach ’68 geschmähten „Sekundärtugenden“ wird der Mensch auf diese natürliche Instabilität seiner Antriebe zurückgeworfen. Daher sollte die Losung einer konservativen Revolution heißen: „Zurück zur Kultur“ (Arnold Gehlen), denn „vorwärts geht es offenbar mit schnellen Schritten der Natur entgegen, da die fortschreitende Zivilisation uns die ganze Schwäche der durch strenge Formen nicht geschützten menschlichen Natur demonstriert“. Eine konservative Revolution muß darauf gerichtet sein, der Globalisierung durch die Wiedereinsetzung einer Volkswirtschaft zu begegnen. Das weitere folgt von selbst, aber nur, wenn das Gemeinwohl wieder mehr gilt als „mein Wohl“. Bis zur Französischen Revolution bedeutete „Revolution“ keinen Neuanfang unter entschiedenem Bruch mit der Vergangenheit, sondern die Rückkehr zu vorausgegangenen Verhältnissen, beispielsweise zu einem nicht durch Despotie gestörten Rechtszustand. Für eine „konservative Revolution“ könnte es heute jedoch fast zu spät sein, denn unser gegenwärtiger „Naturzustand“ entspricht den Forderungen der entgrenzten, globalisierten Marktwirtschaft. Er ist das Spiegelbild des technisch-ökonomischen Zeitgeistes, und dieser drängt eher auf einen weiteren Abbau traditioneller Institutionen wie der Familie hin, als auf ihre Stärkung. Die bürgerliche Gesellschaft, die Gesellschaft der freien Konkurrenz, läßt dem einzelnen größtmögliche Freiheit. Sie zieht der Freiheit des einzelnen jedoch die Grenzen eines festen rechtlichen Rahmens. Diese Rechtssicherheit ist eine Vorbedingung der Entfaltung der Marktwirtschaft, daher ist die kapitalistische Wirtschaftsweise, als materielle Existenzbedingung der bürgerlichen Gesellschaft, so außerordentlich erfolgreich, wenn es darum geht, die Konsumenten mit Gütern und Dienstleistungen zu versorgen. Nach dem Scheitern der planwirtschaftlichen Experimente des Realsozialismus dürfte daran kein Zweifel mehr bestehen. Zugleich kennt der Kapitalismus jedoch keine Grenzen, denn er zielt auf imaginäre Bedürfnisse, die durch die Phantasie stets ausgeweitet werden können. Daher muß zuerst Geld produziert und diesem Geld durch entsprechende Ausweitung des imaginären Bedarfs und der dazugehörigen Güterproduktion zusätzlich Geltung verschafft werden. Alles, was die Ausweitung der Bedürfnisse und der Güterproduktion behindert und Begrenzung vermuten läßt, schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger (Geld und Magie, 1985), muß beseitigt werden. „Durch die Beseitigung dieser inneren Grenzen des Wirtschaftens nimmt die Wirtschaft immer mehr überhand und schlägt die ganze Welt in ihren Bann.“ Es gehört zum Wesen des kapitalistischen Wirtschaftens, ethisch indifferent zu sein. Die Marktwirtschaft ist nicht in der Lage, aus sich selbst heraus Werte und Normen zu schaffen, die für ein dauerhaftes Zusammenleben unverzichtbar sind. Eine konservative Revolution muß daher darauf gerichtet sein, der Globalisierung durch die Wiedereinsetzung einer Volkswirtschaft zu begegnen. Das weitere folgt von selbst, aber nur, wenn das Gemeinwohl wieder mehr gilt als „mein Wohl“. Dieses „Stammesgesetz“ muß unseren Kindern ja nicht gleich in die Haut geritzt werden, aber zumindest den Respekt vor den ganz selbstverständlichen bürgerlichen „Sekundärtugenden“ sollte man ihnen in Schule und Elternhaus wieder beibringen dürfen, ohne gleich als „Faschist“ zu gelten. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, daß ausgerechnet jene, die 1968 ausgezogen sind, unter dem Panier der „Selbstverwirklichung“ den grenzenlosen Kapitalismus zu bekämpfen, mit ihrer Destruktion der ethischen und institutionellen Grundlagen unseres Gemeinwesens am meisten dazu beigetragen haben, jene inneren Grenzen niederzureißen, die der zerstörenden Durchdringung aller Lebensbereiche durch die Wirtschaft Widerstand entgegen setzen könnten. Das Unbehagen an der Kultur führt eben nicht zur Befreiung, sondern zu neuen Formen der Sklaverei im „Naturzustand“ des „Alle gegen alle“. So gesehen, erweisen sich die „Naturvölker“ als die eigentlichen Kulturvölker. Prof. Dr. Thomas Bargatzky lehrt Ethnologie an der Universität Bayreuth. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt zum Thema „Europa muß christlich bleiben“ (JF 11/07). Foto: Kirchenhimmel: Ohne die Verwurzelung in einer tiefer reichenden Religion läßt sich auf die Dauer keine Ethik begründen, auch nicht das auf Pflege und Kultivierung im weitesten Sinne gerichtete Handeln