Nach einer berühmten Formulierung Sigmund Freuds hat die naive menschliche Eigenliebe durch drei Wissenschaftler „schwere Kränkungen“ erfahren: durch Kopernikus, weil er die Erde und damit auch den Menschen aus dem Mittelpunkt des Weltalls rückte; durch Darwin, weil er mit den Gesetzen der Evolution zeigte, daß der homo sapiens nur ein arriviertes Säugetier ist, und durch ihn selbst, Freud, weil er die Bedeutung des Unbewußten verstand, der nichtrationalen Elemente im Seelenleben, die nur den Schluß zuließen, daß der Mensch nicht einmal Herr im eigenen Haus sei. Freud hielt die letzte für die gravierendste „Kränkung“. Man kann ihm darin soweit recht geben, als kaum etwas den Modernen derart verstört hat wie der permanente Verdacht, frustriert oder neurotisch oder traumatisiert zu sein. Aber mittlerweile ist ein gewisser Grad der Gewöhnung eingetreten, sogar in bezug auf das Abgründige unseres Seelenlebens. Anders verhält es sich mit den Auswirkungen der kopernikanischen und der Darwinschen These. Vielleicht deshalb, weil sie seit dem 19. Jahrhundert immer weniger als „Kränkung“ betrachtet wurden, sondern als großartige Gelegenheit, ein unvernünftiges und beengendes Weltbild zu zerstören. Der Parteinahme der Aufklärung für die Lehre des Kopernikus und alle weiteren Erkenntnisse der Naturwissenschaft entsprach die der Sozialisten und der Liberalen für Darwins Theorie zur „Entstehung der Arten“. Hier wie dort ging es um die große Emanzipation aus alten Bindungen und um eine Gesamterklärung, die ohne die „Arbeitshypothese Gott“ auskam. Man war dabei getragen vom Schwung des Fortschrittsglaubens und hoffte, daß die Religion irgendwann ganz verschwinden werde. Allerdings gab es auch die, die den Prozeß der Austreibung Gottes mit Unbehagen verfolgten. Das waren zum einen jene, die der Tradition verhaftet blieben und die biblische Lehre von der Schöpfung des Kosmos wie des Menschen durch Gottes Hand verteidigen wollten. Das waren zum anderen diejenigen, die die Brüchigkeit des Fortschritts bemerkten, seinen Mangel an Tragfähigkeit über moorigem Grund. Gottfried Benn hat diesem Empfinden in seinem Gedicht „Verlorenes Ich“ Ausdruck gegeben, das die Einsamkeit des Menschen in einem nur von Zufall und Notwendigkeit bestimmten All beschreibt, ein Wesen, das sich dem Gesetz des Dschungels als Seinsgrund ausgeliefert sieht und gleichzeitig der Reflexion und nicht einmal zurückkehren kann in die fraglose Existenz des Tiers: „Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten/ und was die Menschheit wob und wog,/ Funktion nur von Unendlichkeiten -/ die Mythe log.“ Das Wort „Mythe“ bezeichnet hier im Grunde alle Weltanschauung und Religion, jedenfalls die Denkweisen, die der Mensch hervorgebracht hat, um den Sinn seines Daseins zu verstehen. Für Benn ist das alles „Lüge“. Er sagt das mit einem Gefühl der Trauer, das er über die Entzauberung der Welt empfindet, aber er hält die neue, die positivistische Sicht der Dinge für unumgänglich, wenn man ehrlich bleiben und die Wirklichkeit verstehen will. Nun ist der Positivismus längst Alltagsanschauung des westlichen Menschen geworden, aber parallel zu diesem Erfolg ist dessen Selbstsicherheit ins Wanken geraten. Heute weiß man, daß das Kausalitätsprinzip oder die Grundsätze der Newtonschen Mechanik nicht auf allen Feldern gelten, oder erwägt die Möglichkeit teleologischer Prozesse in der Natur. Aber das sind Bereiche, zu denen nur ein kleiner Kreis Zugang hat. Die Unmöglichkeit, die neueren naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu popularisieren, unterscheidet die Lage deutlich von derjenigen nach Kopernikus oder Darwin. Das kann aber hingenommen werden, denn im Kern geht es gar nicht darum, die Naturwissenschaft grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern darum, zu erkennen, was sie zu leisten vermag. „Die Wissenschaft denkt nicht.“ Das berühmte Diktum Heideggers bezieht sich darauf, daß der Naturwissenschaft durch ihren Triumph zu verdecken gelang, daß sie von Ontologien ausgeht, die sie selbst nicht weiter begründen kann, und – wichtiger noch – daß ihr jede Möglichkeit fehlt, aus sich heraus Fragestellungen zu bestimmen oder die Schlußfolgerungen zu kontrollieren, die ihre Forschung nur vorbereitet. Der Anspruch der Naturwissenschaft gründet nicht darauf, daß sie die „Wahrheit“ erkennt, sondern darauf, daß sie sich mit der Technik verbündet hat und ungeheure Mittel zur Weltbemächtigung zur Verfügung stellt. Was an der Formulierung Heideggers irritiert, ist, daß er seine eigene Disziplin, die Philosophie, aber auch andere, etwa die Theologie, gar nicht als „Wissenschaft“ bezeichnet. Damit ist aber immerhin deutlich, daß sie völlig andere Verfahren verwenden und sich von anderen Überlegungen leiten lassen. Das zu begreifen, kostete die Theologie viel Zeit. Mehr als einhundertfünfzig Jahre hat sie sich mit Rückzugsgefechten befaßt, das Feld den Naturwissenschaften geräumt oder sich in das Ghetto der Frommen zurückgezogen. Weder das eine noch das andere war von Erfolg gekrönt. Deshalb sollte man die alten Fehler nicht wiederholen. Das tut aber, wer die Kategorien verwechselt und neuerdings einen „Kreationismus“ anbietet, der die biblische Schöpfungsgeschichte als brauchbare wissenschaftliche Erklärung für den Weltursprung retten möchte. Entscheidend ist dagegen, daß zuerst die Naturwissenschaft auf den Bereich verwiesen wird, der ihr zusteht, und die Grenze markiert, die sie von allem übrigen trennt. Genau das hat Kardinal Schönborn mit seiner Katechese zum Verhältnis von Glauben und Evolutionstheorie versucht. Die christliche Lehre, so Schönborn, müsse daran festhalten, daß Gott die Welt entworfen habe, daß sich das nicht nur im Glauben, sondern auch mit Hilfe der Vernunft erkennen lasse und daß insofern die Naturwissenschaften zu den von Gott gegebenen Möglichkeiten gehören. Das heißt für den konkreten Fall, daß die Evolutionstheorie hilfreich sein mag, um Ursprung und Geschichte der Arten zu erklären, so wie die Lehre des Kopernikus hilfreich sein mag, den Aufbau des Kosmos zu verstehen, aber weder die eine noch die andere kann etwas wissen von ihrer Schönheit oder Häßlichkeit, ihrem Gut-Sein oder Böse-Sein, ihrem Sinn oder Unsinn. Die Naturwissenschaften beantworten immer nur die Frage „Wie?“, niemals die Frage „Warum?“. – Jeder mag entscheiden, welche Frage er für die wichtigere hält.
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