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Früchte diplomatischer Wühlarbeit

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Der Auswärtige Ausschuß des US-Repräsentantenhauses billigte am 11. Oktober eine Entschließung zum türkischen Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Eine erstaunliche Entscheidung – nicht weil der Genozid 1915/17 an hunderttausenden bzw. nach armenischen Angaben über 1,5 Millionen auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches zwangsumgesiedelten Armeniern historisch anfechtbar wäre, sondern weil seine Anerkennung fast allen realpolitischen Erwägungen zuwiderläuft. Nachdem Präsident Bush und die türkische Regierung noch unmittelbar vor der Abstimmung deutliche Warnungen von sich gegeben hatten, drückte eine demokratische Mehrheit von 19 Ausschußmitgliedern (plus acht Republikanern) die geschichtspolitisch bedeutsame Resolution gegen eine vor allem republikanische Minderheit von 13 Vertretern (plus acht Demokraten) durch. Mit der – allerdings nicht bindenden – Erklärung wird Bush aufgefordert, die „systematische und absichtliche Vernichtung von 1,5 Millionen Armeniern zutreffenderweise als Völkermord zu charakterisieren“. Die USA folgen damit unter anderem dem Beispiel Frankreichs, das den Genozid in Ostanatolien bereits 2001 offiziell anerkannte, und bekamen erwartungsgemäß den geballten Unmut des für Washington gerade mit Blick auf den Irak-Krieg wichtigen Nato-Verbündeten Türkei zu spüren. Während in Frankreich die traditionell engen Beziehungen zu Armenien sowie die starke armenische Diaspora in Paris die Durchsetzung der Völkermord-Deklaration erleichterten, muß man sich bei den USA fragen, wie die Entscheidung vom 11. Oktober überhaupt zustande kommen konnte. Handelte es sich um einen innenpolitisch begründeten Schachzug der oppositionellen Demokraten gegen das Weiße Haus? Haben sich die meisten Ausschußmitglieder letztlich von geschichtlichen Einsichten und menschenrechtlichen Grundüberzeugungen leiten lassen? Sind sie zu der Überzeugung gekommen, daß es sich bei den Armenier-Massakern der Jungtürken um einen Völkermord entsprechend der Uno-Genozid-Konvention handelte, es also genügend historische Indizien und Belege für eine Vorsätzlichkeit dieser Greueltaten gibt? Zum Teil dürfte das tatsächlich der Fall gewesen sein. Ausschlaggebend für die „Völkermord“-Erklärung des US-Repräsentantenhauses war allerdings etwas anderes: nämlich der stetig wachsende Einfluß der gut organisierten armenischen Diaspora in Nordamerika. Die sprichwörtliche Begabung der Armenier als Händler hat vielen dieser ab Ende des 19. Jahrhunderts in die Neue Welt geflüchteten Kaukasier zu Wohlstand und wirtschaftlicher wie politischer Macht verholfen. (In der jüngsten Auswanderungswelle zu Beginn der 1990er Jahre verließen rund 700.000 Armenier – gut 18 Prozent der Gesamtbevölkerung – ihre Heimat.) Die armenischen Emigranten in den USA verfügen über zwei mächtige Lobbygruppen: die 1972 gegründete Armenian Assembly of America als größte Vereinigung sowie das Armenian National Committee of America. In den neun Monaten seit der Einreichung der „Völkermord“-Deklaration am 30. Januar haben die mehr als 10.000 Mitglieder der Armenian Assembly mit Telefonaten, Briefen und E-Post-Sendungen systematisch Druck auf Kongreßmitglieder ausgeübt. Das Armenian National Committee of America startete gleich drei basis-demokratische Kampagnen unter den klangvollen Mottos „Click for Justice“, „Call for Justice“ und „End the Cycle of Genocide“. Nach der Entschließung des Auswärtigen Ausschusses strebt man nun so bald wie möglich ein gleichlautendes Abstimmungsergebnis des Kongresses an. Laut armenischer Lobby haben 226 der 535 Kongreßabgeordneten bereits ihre Unterstützung zugesagt. Die am 11. Oktober verabschiedete Genozid-Resolution wird von über 50 ethnischen und religiösen Interessenvertretungen unterstützt. Dazu zählen beispielsweise folgende Organisationen und Einrichtungen: American Federation of Jews from Central Europe, American Hellenic Institute, American-Hungarian Federation, American-Latvian Association in the U.S., Bulgarian Institute for Research and Analysis, Christian Solidarity International, Congress of Romanian Americans, Council for the Development of French in Louisiana, Estonian-American National Council, Genocide Intervention Network, Global Rights, Jewish War Veterans of the U.S.A, Joint Baltic-American National Committee, Lithuanian-American Community, National Ethnic Coalition of Organizations, National Federation of Filipino-American Associations, Polish-American Congress, Slovak League of America, The Georgian Association in the USA, Ukrainian Congress Committee of America. Ähnlich wie in Frankreich sorgen die armenischen Zuwanderer auch in den USA dafür, daß die Probleme ihrer Nation und des Kaukasus insgesamt viel stärker die öffentliche Diskussion bestimmen als etwa in Deutschland. Vor allem tragen sie in erheblichem Maße dazu bei, daß Washington im Kaukasus eine mehrdimensionale Interessenpolitik verfolgt. Statt nur auf den Schulterschluß mit dem wegen seiner Öl- und Gasvorkommen im Kaspischen Meer wichtigen Aserbaidschan zu setzen, bemühen sich die USA seit einigen Jahren verstärkt, Armenien von dessen traditionellem Verbündeten Rußland zu lösen. In dem 1988 ausgebrochenen Krieg um Berg-Karabach hatte das kleine christliche Armenien (mit 29.740 Quadratkilometern etwa so groß wie Brandenburg) nur dank umfassender russischer Militärhilfe gegen die muslimischen Aseris die Oberhand behalten. Damals setzte es nicht nur seinen Anspruch auf die umkämpfte armenisch besiedelte Exklave durch, sondern annektierte gleich noch einen schmalen aserbaidschanischen Landstrich, der Berg-Karabach vom Mutterland trennte. Seither sieht sich die Führung in Eriwan (Jerewan) regelmäßig mit aserbaidschanischen Kriegsdrohungen konfrontiert und muß zähneknirschend zusehen, wie die Einnahmen aus dem florierenden Energiegeschäft den feindlichen Nachbarn immer stärker machen. Höchst beunruhigend ist darüber hinaus die Tatsache, daß auch Rußland in der Region ein Doppelspiel betreibt und seinen einstigen Einfluß in Aserbaidschan zurückzugewinnen trachtet – auf Kosten armenischer Interessen. Daß es in jüngster Zeit vermehrt freundschaftliche Signale von Eriwan gen Washington und umgekehrt gegeben hat, ist nicht nur dem wachsenden Einfluß der Diaspora geschuldet, sondern dient auch dem Zweck, Rußland zu signalisieren, daß Armenien vielleicht doch noch andere Optionen haben könnte, als sich völlig an den Kreml zu binden und beispielsweise die Stationierung von über 40.000 russischen Soldaten im Land bedingungslos hinzunehmen. Die Emigranten, die die Regierung in Eriwan am liebsten unter dem einheitlichen Dach des armenischen Staates organisieren würde, sind dabei der entscheidende Hebel. Immerhin gibt es außer den 3,2 Millionen armenischen Staatsbürgern ungefähr sechs Millionen Armenier jenseits der Grenzen. Sie wohnen weit verstreut in 102 verschiedenen Staaten, wobei die Russische Föderation mit etwa zwei Millionen Personen die größte Diaspora-Gemeinde aufweist (die Hälfte davon allein im Großraum Moskau), gefolgt von den Vereinigten Staaten mit rund einer Million und Frankreich mit 400.000. Ihre leidvolle Geschichte gerade in den letzten gut hundert Jahren ist für die armenischen Gemeinden in aller Welt ein starkes Bindeglied, aber auch eine traumatische Erfahrung. Das Pathos der ersten Strophe der armenischen Nationalhymne zeigt, wie aus der gemeinsamen Trauer neues Selbstbewußtsein, Widerstandswille, ja Aggressivität erwächst: „Unser Vaterland, beraubt, schikaniert, unterdrückt von skrupellosen Feinden, ruft jetzt seine treuen Söhne, um den rächenden Schlag auszuführen.“ Welchen Einfluß die armenischen Lobbies nicht nur in den USA und in Frankreich haben, das könnte bald auch der bundesdeutschen Öffentlichkeit bewußt werden: dann nämlich, wenn die seit Jahren angestrengten Schadensersatzklagen gegen Lebensversicherungen und Banken wegen einbehaltener Vermögenswerte von Opfern und Überlebenden der Christenverfolgungen im Osmanischen Reich zwischen 1894 und 1923 auch hierzulande erste Erfolge zeitigen sollten. Im Oktober 2005 einigte sich zum Beispiel die französische Axa-Versicherung außergerichtlich mit rund 5.000 Nachfahren von über 10.000 armenischen Genozidopfern, die bei einer später von Axa übernommenen Gesellschaft versichert waren. Man vereinbarte 14,4 Millionen Euro Schadensersatz. Fünf Jahre zuvor sah sich der US-Versicherer New York Life zu einem ähnlichen Abkommen mit armenischen Klägern genötigt, nachdem ein kalifornisches Bezirksgericht auf eine Zahlung von 9,3 Millionen Euro Schadensersatz erkannt hatte. In den USA sind seit 2005 mit der Victoria-Versicherung und der Deutschen Bank auch zwei bundesdeutsche Gesellschaften Ziel derartiger Prozesse. Beide waren ebenfalls während des Ersten Weltkrieges im Osmanischen Reich tätig und verwalteten seither armenische Opfergelder. Diese beliefen sich nach Angaben der Klägerseite auf einen Wert von über 20 Millionen damaliger US-Dollars. Die Deutsche Bank spricht sich hartnäckig gegen Entschädigungen für die Nachfahren umgekommener Armenier aus. Sie profitiert dabei von den weitverbreiteten gesellschaftlichen Rücksichtnahmen auf die Türken. Diese zeigten sich unter anderem 2001 in der skandalösen Absage der Stadt Potsdam und des Landes Brandenburg, das Geburtshaus des großen deutschen Armenier-Freundes Pfarrer Johannes Lepsius mit Steuermitteln zu sanieren. Und sie offenbarten sich im Bundestagsbeschluß vom 16. Juni 2005, in dem zum 90. Jahrestag der Massenverbrechen deren Einstufung als „Genozid“ abgelehnt wurde. Doch das letzte Wort hinsichtlich der Bewertung der ersten großen Massenvertreibung des 20. Jahrhunderts ist damit längst noch nicht gesprochen. Im Gegenteil: Die starken bilateralen Irritationen im Anschluß an die Armenien-Resolution des Ausschusses bringen dessen Verabschiedung durch das US-Repräsentantenhaus in Gefahr. Angesichts der harschen Kritik und des Rückzugs des türkischen Botschafters aus Washington verringerten sich die sicher geglaubten Stimmen auf seiten der Demokraten. Quintessenz: Die umstrittene Resolution wird wohl verschoben. Man hoffe auf eine „besseres Timing“, ließen ihre Initiatoren verlauten. Foto: Staatswappen Armeniens und Demonstration gegen die Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern in Berlin (Juni 2005): Ob in den USA, Frankreich oder Deutschland – wenn die Armenier-Lobby arbeitet, ist gut organisierter türkischer Widerstand nicht weit

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