Genealogie gab es eher unter den Menschen als Historie.“ Es ist eine einfache anthropologische Wahrheit, die der Begründer der wissenschaftlichen Ahnenforschung, der aus Franken stammende Historiker Johann Christoph Gatterer, schon vor über zweihundert Jahren ausgesprochen hat. Menschsein beginnt, wenn das Individuum ein Bewußtsein von Zeit, deren Ablauf und der Abfolge von Werden und Vergehen erlangt. Wo komme ich her, was wird aus mir, wie geht es nach mir weiter – diese Fragen unterscheiden den Menschen vom Affen. Es sind auch die Grundfragen der Genealogie. Kaum eine Wissenschaft läßt sich zwangloser auf Grundbedürfnisse des menschlichen Geistes zurückführen als eben die Erforschung der eigenen Vorfahren. Um deren Aufzählung kreisten mündliche Überlieferungen von jeher; davon zeugen nicht zuletzt die Ahnenreihen, die zu den ersten schriftlichen Zeugnissen der Menschheitsgeschichte überhaupt gehören. Über Jahrhunderte und Jahrtausende galt: Wer sagen konnte, wer sein Vater und Vatersvater war, wies sich damit als vertrauenswürdige, verläßliche, identifizierbare Person aus; davon zeugt die traditionelle, mancherorts bis heute erhaltene Namensbildung quer durch alle Völker und Kulturen. Eine lange und illustre Abstammung konnte zudem Ansprüche auf Besitz, Macht oder Autorität untermauern. Der vornehme Römer führte seine Ahnenreihe auf den mythischen Gründer Aeneas oder seine Kampfgenossen zurück, der neuaufgestiegene Patrizier der Spätantike auf die ersten Geschlechter der alten Republik; der französische Aristokrat des ancien régime wußte einen fränkischen Edlen in seiner Ahnenreihe, der spanische war stolz auf seinen gotischen Vorfahren, der seine Familie mit der Reichsgründung in der Völkerwanderung verband. Gut und schön – aber brauchen wir das alles heute noch im globalisierten 21. Jahrhundert? In einer Zeit, in der das eigene „Netzwerk“ und die Bereitschaft zu grenzenloser Mobilität, Flexibilität und interkultureller Kompetenz über die Zugehörigkeit zur neuen Elite entscheidet? Ahnenforschung wirkt da fehl am Platze. Sie hatte schließlich ihre große Zeit im bürgerlichen 19. Jahrhundert, als nicht nur Adelige, sondern auch bürgerliche Geschlechter systematisch ihre Abstammung ergründeten; im biologistischen frühen 20. Jahrhundert bemächtigten sich gar Rassenideologen wie die deutschen Nationalsozialisten der Genealogie und funktionierten sie zum Hilfsmittel ihrer Weltanschauung um. Das hätte ausreichen müssen, um die Ahnenforschung zumindest in Deutschland für alle Zeiten zu diskreditieren. Um so erstaunlicher ist die aktuelle, die zweite Renaissance der genealogischen Forschung. Wie die erste, die sich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts datieren läßt, ist sie wesentlich befeuert durch eine umfassende öffentliche Demokratisierung – diesmal nicht der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, sondern vielmehr der Kommunikationsmittel. Der schnelle, vernetzte, weltweite elektronische Datenverkehr eröffnet den Genealogen ungeahnte Möglichkeiten für Informationsaustausch und Quellenerschließung. Warum aber finden sich Zigtausende Forscher, vom Hauptberuflichen bis zum Freizeitenthusiasten, in Hunderten Vereinen und Gesellschaften zusammen, um Geschlechterfolgen und Sozialgeschichte ihrer eigenen Familie, einer Dorfgemeinschaft oder Region, eines Berufsstandes oder Anwesens zu studieren? Und das ohne nennenswerte öffentliche Ermunterung und ohne großen Geldsegen aus der Staatskasse, ohne die heute kein Engagement mehr möglich scheint? Das Verlangen nach Sinn, Orientierung und Verortung scheint dabei eine zentrale Rolle zu spielen. Die Entgrenzung aller Lebensverhältnisse führt ja gerade nicht in die Herausmendelung des kosmopolitischen neuen Universalmenschen, sondern ruft als Gegenkraft zugleich die Betonung lokaler und regionaler Identitäten und Identifikationsmomente hervor. Von der Konjunktur der Heimat- und Regionalgeschichte profitiert auch die Genealogie, die mit ihr zahlreiche Berührungspunkte aufweist. Kaum zufällig nehmen unter den regional ausgerichteten genealogischen Vereinigungen diejenigen, die sich den verlorenen deutschen Ostprovinzen und den ost- und mitteleuropäischen Siedlungsgebieten widmen, eine besonders starke Stellung ein. Manchem Heimatvertriebenen ermöglichte die Ahnenforschung ein Festhalten und Selbstvergewissern angesichts des epochalen Zivilisationsbruchs von 1945, ein Mittel auch zur geistigen Sicherung des persönlichen Anteils am Erbe eines untergegangenen Teils des eigenen Landes und Volkes, das weder der einen noch der anderen deutschen Regierung noch auch dem Gros der geteilten Nation sonderlich viel zu bedeuten schien. Nicht zuletzt ist das ungebrochene und rasch zunehmende Privatinteresse an Genealogie ein basisdemokratisches Aufbegehren gegen einen Zeitgeist, der überindividuelle Zusammenhänge und Traditionslinien grundsätzlich zu leugnen oder ins Lächerliche zu ziehen pflegt. Ein Ahnenforscher ist im gewissen Sinne ein Anti-Achtundsechziger; er verweigert sich dem Egoismus des „Jeder für sich und für jetzt“ und fragt nach seiner Herkunft und deren Bedeutung. Für ihn sind Väter und Vorväter nicht die Unterdrücker, der Feind, die autoritäre Bedrohung, die man „bewältigen“ und von der man sich „emanzipieren“ muß. Er folgt einem menschlichen Urbedürfnis und sucht Anerkennung für sich durch Anerkennung für die Ahnen. Im Zeitalter der kollektiven Diskriminierung ganzer Generationen als vermeintlicher „Täter“ ist dieses Streben freilich zur Privatsache geworden. Für das Gemeinwesen bleibt es dennoch nicht ohne Folgen, daß immer mehr Deutsche sich auf die Suche nach den verlorenen Generationen machen. Die Überwindung des kollektiven Gedächtnisverlustes beginnt beim einzelnen. Eine abgerissene Traditionslinie wird neu geknüpft: Die gegenwärtig Lebenden befragen die, die vor ihnen waren, nach ihren Erfahrungen, die vorangegangenen Generationen geben ihre Erinnerungen weiter. Die Beschäftigung mit den eigenen Vorfahren schärft auch das Bewußtsein dafür, daß wir nicht als atomisierte Individuen durchs Leben gehen, sondern in einem Zusammenhang stehen mit denen, die vor uns waren, und denen, die nach uns leben werden. Woher kommen wir, wie geht es nach uns weiter – diese Fragen machen aus einer Ansammlung von Einzelmenschen eine Schicksalsgemeinschaft, eine Nation.