In einem Interview, das Wolfgang Venohr vor vielen Jahren mit der slowakischen Dichterin Katarina Lazarova geführt hat, fragte er sie auch nach ihrer Einschätzung Stauffenbergs, und erhielt die Antwort: „Wenn er von meinem Volk wäre, wir würden ihm Denkmäler bauen, Kränze winden, Gedichte schreiben, Lieder singen …“ Vielleicht könnte man sagen, daß auch die Deutschen dem Hitler-Attentäter und seinen Mitverschwörern Denkmäler errichtet haben, bescheidene, aber immerhin. Doch tritt dabei die Person Stauffenbergs niemals so hervor, wie es einem Helden zukommt, und ganz sicher windet ihm niemand Kränze, schreibt niemand Gedichte oder Lieder zu seinen Ehren. Dazu müßte Stauffenberg zum Gedächtnis der Nation gehören, es müßte ein konturiertes Bild seiner Person und seiner Tat geben, das jedem mitgeteilt wird, vor allem dadurch, daß man von ihm weitererzählt, so wie man früher von Arminius und Widukind, von Heinrich dem Vogler und den Stauferkaisern, von Luther und Friedrich dem Großen, von den Schillschen Offizieren und Bismarck erzählt hat. Nicht ganz sicher in den Details, staunend, verklärend. Ein Grund für das Fehlen solcher Erzählungen ist der uns antrainierte Verdacht gegen „große Männer“. Es ist ein Vorbehalt, den man politisch-moralisch aufgeputzt hat, der aber vorzüglich zu den Bedürfnissen der Massenseele paßt, die alles dulden kann, nur nicht das Herausragen. Sie erträgt keine Helden im genauen Sinn, die Perspektive des Kammerdieners ist die einzig legitime, symbolische Menschen kommen nicht vor oder wirken eigenartig blaß, wegen ihres geringen Unterhaltungswertes. Damit bewegen wir uns in einer geistigen Welt, die derjenigen Stauffenbergs diametral entgegengesetzt ist. In seinem Kosmos war der symbolische Mensch die ausschlaggebende Größe: Cäsar, Friedrich II., Napoleon, Gneisenau. Das hatte selbstverständlich mit der Prägung durch den Dichter Stefan George und dessen Kreis zu tun. Nachdem Stauffenberg sich zum Widerstand entschlossen hatte, pflegte er Georges Gedichte zu zitieren und entschied anhand der Reaktion der Hörer, ob er sie in seine Pläne einweihen konnte oder nicht. Das Gedicht „Der Täter“ soll der Kreis früh auf ihn bezogen haben: „Heut will ich noch ganz mich ergeben dem lindernden frieden. / Denn morgen beim schrägen der strahlen ist es geschehn / Was unentrinnbar in hemmenden stunden mich peinigt / Dann werden verfolger als schatten hinter mir stehn / Und suchen wird mich die wahllose menge die steinigt.“ – Das war lange bevor irgendjemand den Aufstieg Hitlers ahnte, den Krieg und die Verbrechen, oder hätte wissen können, daß Stauffenberg den Anschlag ausführen würde. Es ist bekannt, daß Stauffenbergs Motive für den Weg in den Widerstand weniger politischer als grundsätzlicher Art waren. Das erklärt auch, warum ihn die konkreten Probleme des Regimewechsels oder der zukünftigen Regierungsbildung kaum interessierten. Er spottete bei Gelegenheit über die „Verschwörerkränzchen“, in denen man sich en détail mit dem Tag danach beschäftigte. Stauffenberg war vor allem mit dem Umsturz selbst befaßt, und den betrachtete er als Erhebung des „heiligen“, des „geheimen“, des „wahren“ gegen das „verfluchte“, das alltägliche, das „falsche“ Deutschland. Er nahm in Anspruch, die Nation vor der Geschichte und vor Gott zu vertreten und verstand sein Tun und das Tun seiner Mitverschwörer – im wahrscheinlichen Fall des Scheiterns – als „Opfer“. Henning von Tresckow hat den Gedanken des Freundes unübertroffen ausgedrückt in der Rede von den „Gerechten“, um deretwillen Gott sogar Sodom und Gomorrha habe verschonen wollen, weshalb er hoffe, daß Deutschland gerettet werde, wenn die wenigen bereit seien, das „Nessushemd“ anzuziehen. Auch das wird nicht gewürdigt – oder bestenfalls in formelhaften Bekenntnissen von offizieller Seite. Der Vorbehalt richtet sich heute nicht mehr auf Verrat und Eidbruch. Es herrscht eher „denunziatorische Laune gegenüber dem Widerstand“ (Joachim C. Fest). Gemeint ist damit vor allem der Versuch, die Männer des 20. Juli als „Faschisten“ zu entlarven, die vielleicht sogar in die nationalsozialistischen Verbrechen verstrickt waren (vor allem in Bezug auf Tresckow gab und gibt es entsprechende Bemühungen) oder ihnen wenigstens die Eignung als Vorbilder für das moderne Deutschland abzusprechen. Mancher moniert sogar Stauffenbergs Prägung durch die preußisch-deutsche Militärtradition, die ihn unbrauchbar mache als Bezugspunkt für eine „moderne Interventionsarmee“ wie die Bundeswehr. Da bleibt er schließlich nur noch psychologisch „interessant“ (Eckhard Fuhr). Das Urteil zeugt von erstaunlicher Selbstüberschätzung. Auch das ein Ausdruck fehlenden Respekts vor großen Menschen, der die Kläglichkeit unserer Gegenwart deutlich macht, und den Abstand zu jener Auffassung von wirksamen Kräften, der Stauffenberg sich verpflichtet fühlte. Zu diesen Kräften gehörte neben der Tat des Heros, dem Willen Gottes und dem Unverfügbaren vor allem die Notwendigkeit, das als sittlich erkannte zu tun. Solche Auffassungen wirken in der Gegenwart fremd, sie haben aber auch in der Vergangenheit das Handeln von Menschen nur ausnahmsweise bestimmt. Was die Vergangenheit der Gegenwart voraus hatte, war die Anerkennung der Menschen, die so handelten, als Vorbilder. Stauffenberg lebte und starb schon in einer Zeit des Übergangs. Man wußte noch, wie die Maßstäbe eigentlich zu bestimmen waren, aber das Wissen schwand und schien seinen Wert zu verlieren. Die Atmosphäre der Auflösung spielt eine wichtige Rolle in dem kurz vor Kriegsbeginn, 1939, erschienenen Roman Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“. Die „Marmorklippen“ waren nicht nur eines der wichtigsten Bücher der „inneren Emigration“, sondern auch eine Prophetie, die viel vom kommenden Schrecken der „Schinderhütten“ und der Schwäche aller Gegenkräfte wußte. An entscheidender Stelle enthielt sie außerdem einen Passus, den man auf Stauffenberg deuten konnte: „Wenn das Gefühl für Recht und Sitte schwindet und wenn der Schrecken die Sinne trübt, dann sind die Kräfte der Eintagsmenschen gar bald versiegt. Doch in den alten Stämmen lebt die Kenntnis des wahren und legitimen Maßes, und aus ihnen brechen die neuen Sprossen der Gerechtigkeit hervor.“ Keine Nation kommt ohne die Erinnerung aus, aber Erinnerung ist kein Selbstzweck. Es gibt einen Unterschied zwischen aufgesetztem Optimismus und der Hoffnung, daß die Substanz genügt, um noch Neues hervorzubringen. Diese Substanz ist vor allem ein moralisches Kapital, das über lange Zeiträume angesammelt wurde, vor allem durch die großen Menschen eines Volkes und ihre großen Taten.