Als ich 2004 für diese Zeitung an einer Reportageserie über kinderreiche Familien arbeitete, besuchte ich auch das Bauernpaar Gruner (Name von der Redaktion geändert), das im südlichen Sachsen-Anhalt einen Biolandhof betreibt. Das Ehepaar mit den fünf kleinen Kindern war bereits durch Einkäufe in deren Hofladen bekannt, per Brief samt beigelegtem Zeitungsexemplar wurden sie von mir um eine Mitarbeit gebeten. Die Gruners hielten das für eine gute Idee und luden ein zum Gespräch am Küchentisch, kinderumspielt. Über dem Tisch ein einzelnes Foto, zentral und gerahmt: ein Bildnis Sophie Scholls. Es wurde ein nettes, interessantes Gespräch mit der Mittdreißigerin und ihrem Mann, fleißige, wache Leute. Beim Abschied war man per du. Der Artikel war bereits geschrieben, da kam ein kühler Brief von Familie Gruner ins Haus: Man fühle sich getäuscht, jetzt erst wisse man, mit wem – der JUNGEN FREIHEIT – man es zu tun habe, keinesfalls wolle man mit dem Anliegen „einer solchen Zeitung“ verwechselt werden, „das sind nicht unsere Werte“. Und Sophie Scholl? Die dürftige Antwort: „Eben. Mit Volk und Vaterland haben wir wenig am Hut.“ Die Namen der Weißen Rose sind vielen nicht vertraut Etwas scheint falsch zu laufen in der Vermittlung der Werte, für die Sophie Scholl starb, die nun, wie ein Rezensent des aktuellen Films schrieb, „zum Gesicht einer Generation“ werden könnte. Wie wird die Person Sophie Scholls, wie werden die Taten der Weißen Rose an deutschen Schulen vermittelt? Fragt man nach, entsteht ein überaus indifferentes Bild. Telefonische Erkundigung bei Nina, deren Abitur drei Jahre zurückliegt. Heute arbeitet sie bei einem großen amerikanischen Kreditkartenunternehmen. „Sophie wer?“ gibt die zweiundzwanzigjährige Frankfurterin am Telefon die Frage zurück. „Kann schon sein, daß das jetzt peinlich ist, aber diesen Namen habe ich nie gehört.“ Auf die ungläubige Reaktion am anderen Ende der Leitung reagiert sie ein wenig gekränkt: „Jetzt warte mal, ich ruf dich gleich zurück.“ Kurz darauf ist Nina wieder am Telefon, im Hintergrund ein munteres Großraumbüro: „Also, drei Azubis, vier ältere Mitarbeiter um die Dreißig, bitte schreib das auf. Bei sämtlichen Lehrlingen, zweimal mit Abi, einmal Realschulabschluß: Fehlanzeige. Zwei der Älteren kannten den Namen und konnten ein paar Hintergründe referieren. Bin jedenfalls beruhigt, daß ich nicht die einzige Geschichtsniete bin.“ Ortswechsel: Peter, 18 Jahre alt und Tischlerlehrling, sitzt mit dem ebenfalls 18jährigen Gymnasiasten Rainer an einem Bistro-Tisch in Halle, sie blättern in einem städtischen Kulturmagazin. Ob ihnen der Name Sophie Scholl etwas sagt? „Nö, wieso, wird die gesucht, oder was?“, gibt Peter zurück, während Rainers Gesicht sich aufhellt: „Doch, doch … da soll es jetzt einen Film geben, gegen Hitler, und das Mädchen versucht darin, den zu stürzen. Ist aber eine fiktive Person, soweit ich weiß.“ Nein, Sophie Scholl hat tatsächlich gelebt und wurde wegen ihres Widerstandes gegen das NS-Regime zum Tode verurteilt – nie in der Schule durchgenommen? „Ganz sicher nicht“, meint Peter, während Rainer die Schultern zuckt: „Ganz sicher doch, würde ich denken. Aber bei der ganzen Hitlerei hat man doch früher oder später abgeschaltet. Gut, wenn ich es mir überleg‘, eine Geschwister-Scholl-Straße kenne ich, auch eine Schule mit diesem Namen. Aber wen kümmert das schon? Ich wohne beispielsweise in einer La-Fontaine-Straße und hab keine Ahnung, wer das ist. Sicher nicht der SPD-Politiker, soviel ist mir schon klar.“ „Die Scholls, Kurt Huber – das waren doch alles Patrioten!“ Unter deutschen Schulen rangieren die Geschwister Scholl als Namensgeber an erster Stelle. Anja, 21, Schreibkraft mit Realabschluß, besuchte einst eine solche Grundschule in Sachsen-Anhalt. „Sophie Scholl? Die sollte ich kennen? Nö, sagt mir nichts.“ Aber vielleicht als Geschwister Scholl? „Ja, halt, klar! Da gibt’s doch so Schulen! Ich war ja selbst auf einer! Doch was das Besondere wäre an Geschwister-Scholl-Schulen, keine Ahnung. Wir wurden da, würd‘ ich sagen, aber ganz normal unterrichtet.“ Diese Umfrage in einem kleinen Kreis dürfte nicht repräsentativ sein, zu denken gibt sie dennoch. „Möglicherweise war die Weiße Rose bislang vor allem eher ein süddeutsches Thema“, vermutet dazu Susanne Hirzel. Wenn sie vor Schülern saß, um aus ihrem ergreifenden Buch „Vom Ja zum Nein. Eine Schwäbische Jugend“ zu lesen, war die Weiße Rose dem jungen Publikum durchweg bereits ein Begriff. Die autobiographische Schilderung der heute 85jährigen, die 1935 Sophie Scholl bei den Jungmädeln kennengelernt hatte, dann durch deren ältere Schwester Inge Scholl auf den BDM „vereidigt“ worden war, später beim Verteilen der Flugblätter half und schließlich gemeinsam mit den anderen Weiße-Rose-Mitgliedern verurteilt wurde – sie erhielt eine Gefängnisstrafe -, zog in etwa fünfzig Lesungen Schulklassen, Volkshochschulkurse, Frauenkreise und Kirchengruppen in Bann. Frau Hirzel unterschlägt nicht, wie euphorisch die Machtergreifung zunächst auch im jugendlichen Kreis der späteren Widerständler begrüßt worden war. Die ganze Familie Scholl sei zunächst begeistert gewesen: „Das kann man sich heute nicht vorstellen, es war eine echte Bewegung.“ Dies zu begreifen, sei notwendig, findet die Zeitzeugin, um „sich selbst wirklich gerecht fragen zu können: ‚Was hätte ich getan?'“ Heute, so spricht Frau Hirzel aus Erfahrung, werde im Geschichtsunterricht immer mit der Schuldfrage begonnen. Daß sich schon junge Schüler als „schuldig am Holocaust“ empfinden, hält sie für fatal und befürchtet auch eine „Übersättigung“ mit der ganzen Thematik. Aus der Weiße-Rose-Stiftung ist Susanne Hirzel ausgetreten, zu deutlich sei ihr der beifallsheischende Schwenk nach links gewesen. Die von dort organisierten Ausstellungen halte sie zwar für gut, habe sich letztlich aber nicht des Eindrucks erwehren können, daß ganze Schülermassen dort einfach „durchgeschleust“ würden – auf Kosten der ganzen Wahrheit. „Die Scholls, Kurt Huber – das waren doch alles Patrioten!“ Die Idolisierung von links sei sicher auch nicht im Sinne Sophie Scholls. Die Antifaschisten brauchen jemanden zum Anbeten. Dazu war Sophie aber viel zu bescheiden.“ Gegnerschaft zu Hitler als Randerscheinung einordnen Ein wenig als Antifa-Ikonen werden die Geschwister Scholl in einem Theater-Projekt der Gemeinschaftshauptschule Neuenhof-Siegburg in Szene gesetzt. Die zehnte Klasse stellt das Stück über den Weiße-Rose Prozeß im Internet vor und läßt Mitschülerin Alysha die mutmaßliche Aktualität dieses Widerstandes kommentieren: „Obwohl wir heute alle über genügend Information über diese Greueltaten verfügen, stehen wir fast schon wieder am Anfang eines rassistischen Denkens.“ Andrea Fischer, Geschichtslehrerin am Offenbacher Rudolf-Koch-Gymnasium, ist ebenfalls sicher, daß Kenntnisse über die Weiße Rose und vornehmlich die Geschwister Scholl zumindest bei Abiturienten als gesichert gelten dürfen. „Unser Lehrplan ist so voll und die zur Verfügung stehende Zeit knapp, daß das Thema ‚Widerstand im Dritten Reich‘ leider in aller Kürze abgehandelt werden muß“, bedauert die 40jährige Studienrätin. „Für mich ist das ein klassisches Referatsthema, das allenfalls eine halbe Stunde füllen darf.“ An den Geschwistern Scholl gebe es aber regelmäßig Interesse, mehrmals seien gerade Oberstufenschüler speziell mit diesem Themenwunsch an sie herangetreten, ansonsten wird meist das letzte Flugblatt der Weißen Rose vorgestellt und besprochen: „Alles aber nur kurz und knapp, es ist einfach zuviel Stoff in zu kurzer Zeit, den wir durchbringen müssen. Jetzt, wo der Film anläuft, werden wir das Thema natürlich vertiefen. Solche Aktualität weckt ja auch immer tieferes Interesse.“ Frau Fischer sieht diese Thematik im Deutsch- und Ethikunterricht gut aufgehoben. „In Deutsch werden die Geschwister Scholl regelmäßig durchgenommen, und in Ethik ist das sogar ein gängiges Beispiel zu den Themen Zivilcourage und Widerstandsrecht.“ Ähnlich bescheidet Bastian Lange aus Brandenburg. Der junge Lehrer unterrichtet Englisch und Geschichte an einem staatlichen Gymnasium unter privater Trägerschaft. Widerstand im Dritten Reich könne er nur „ganz kursorisch“ durchnehmen, meistens diene dann Stauffenberg als Beispiel der Wahl. „Die Geschwister Scholl werden im Religionsunterricht ausführlich behandelt“, sagt er, und da gehörten sie nach seiner Ansicht auch hin. Als politischer Widerstand seien die Aktionen der Weißen Rose doch eher „dumm“ gewesen: „Das sage ich auch den Schülern so.“ Daß sämtliche Absolventen bei Verlassen seiner Schule den Namen der Geschwister Scholl kennen und ihn einordnen können, hält er für sicher. Sowohl Ethik als auch Geschichte unterrichtet Bernhard Ehlers an einem Frankfurter Gymnasium mit hohem Ausländeranteil. „Der Themenkreis Widerstand im Dritten Reich fällt für mich ganz klar in die Zugehörigkeit des Faches Ethik.“ Die Deutschen als geschichtliches Subjekt wären in der fraglichen Zeit nun einmal in der Masse Nazis oder Mitläufer gewesen, für dieses Kapitel genüge es, Widerstand in wenigen Sätzen abzuhandeln: „Die Gegnerschaft zu Hitler war nun mal gesamtgesellschaftlich eine Randerscheinung. Da gibt es nichts reinzuwaschen.“ Anläßlich des Projekts eines Fachkollegen unter der Überschrift „Sie sagten Nein!“ habe es sogar einzelne Proteste von der Elternseite gegeben. „Ein serbischer Vater und ein jüdisches Elternpaar hatten damals eingewandt, das ginge nicht, den Blick auf die Geschwister Scholl oder ausgerechnet Stauffenberg zu fokussieren und deutsche Täterschaft damit klammheimlich unter den Tisch zu kehren. Und ich finde, diese Eltern hatten recht.“ Im Ethikunterricht nutzt Herr Ehlers die Scholls demgegenüber gern zur „positiven Identitätsstiftung“, wie er sagt, sei es doch „heute wichtiger denn je, antidemokratischen Auswüchsen die Stirn zu bieten.“ Relativ einheitlich ist, was die gängigen Lehrbücher für das Fach Geschichte zum Thema anbieten. Üblich ist der Abdruck des letzten Flugblatts, ein Foto von Sophie Scholl oder anderen Mitgliedern der weißen Rose in Verbindung mit relativ anspruchslosen Fragen: Wie und wann leisteten Jugendliche im Nationalsozialismus Widerstand? Wie ging das Regime mit kritischen Jugendlichen um? Allein „Entdecken und Verstehen“ von Cornelsen (Erscheinungsjahr 2004) erwartet vom Schüler überdeutlich eine „Transferleistung“ zu angeblichen Parallelen in der heutigen Zeit. Nachdem hier Sophie Scholl als BBC-hörende, Swing tanzende moderne junge Frau (und eben nicht als das glühende Jungmädel) dargestellt wird, wird auf ganzen vier direkt folgenden Seiten der Blick auf „Rechtsextremismus heute“ gerichtet. In einer Aufgabenstellung sollen die Schüler einen NS-Aufmarsch zu einer NPD-Demonstration in Beziehung setzen und die entsprechenden Schlüsse ziehen. Stichwort: Weiße Rose Während der Name der Geschwister Scholl vielen Deutschen geläufig ist, herrscht oft Unklarheit darüber, was man sich unter dem Ausdruck „Weiße Rose“ konkret vorzustellen hat und wem genau diese Bezeichnung galt. Der Begriff umfaßt nämlich nicht nur die Gründungsgruppe aus Hans und Sophie Scholl, Alexander Schmorell, Willi Graf, Christoph Probst und Kurt Huber in München, auf die sich fast alle populären Darstellungen der Weißen Rose beschränken, sondern einen Kreis von etwa fünfzig Personen, verteilt in Hamburg, Saarbrücken, Ulm, Freiburg, Stuttgart, München und Berlin, die sich in einem informellen Geflecht von Freundeskreisen zusammenfanden. Die „Mitglieder“ stammten ebenso aus linken wie aus christlichen, konservativen, bündischen und sogar nationalsozialistischen Zusammenhängen. Anlaß für die Gründung 1941 waren die Widerstandspredigten des Münsteraner Bischofs Clemens Graf von Galen. Die Herkunft des Namens ist umstritten: Mal wird auf den Roman „Die Weiße Rose“ von B. Traven verwiesen, mal auf das Clemens-Brentano-Gedicht „Die Rosa Blanca“. Hans Scholl gab an, der Name sei willkürlich gewählt, besage nichts, sollte nur einen guten Klang haben. Foto: Esra Güner, Chefredakteurin der Schülerzeitung „Weiße Rose“ am Geschwister-Scholl-Gymnasium in Aachen: „Die Idolisierung von links sei sicher auch nicht im Sinne Sophie Scholls“