Bevor die AfD am dritten Tag ihrer Versammlung in die inhaltliche Beratung des Leitprogramms für die Europawahl einstieg, war es wieder einmal der Vorsitzende Alexander Gauland, der mit einer flammenden Rede – einem „Wort zum Sonntag“ – die Geschlossenheit der Partei bewahrte und sie auf dem Pfad der Realpolitik hielt.
Begriffe, so setzte der Grandseigneur der AfD an, unterlägen einem Wandel, und so seien etwa „Vielfalt“ und „Europa“ mittlerweile zu „rhetorischen Kampfmitteln“ umgedeutet worden. Mit der Gleichsetzung von Europa mit der aktuellen EU sei das „Bubenstück“ gelungen, daß diejenigen, die die Traditionen und den Geist Europas bewahren wollten, als „Europa-Hasser“ dastünden, beklagte Gauland.
Daß Europa und die EU nicht dasselbe seien, veranschauliche der Brexit. Denn selbstverständlich seien die Briten weiterhin Europäer, auch wenn sie aus der EU austreten. „Wer Geschichte und Mentalität der Briten kennt, muß sich weniger über den Brexit wundern, als über ihren damaligen Beitritt zur EU“, stellte Gauland fest. Stets habe man von der Insel aus den Kontinent politisch mit einer gewissen Distanz betrachtet; Ziel Londons sei es stets gewesen, eine zu starke Macht auf dem Festland zu verhindern und die eigene Unabhängigkeit zu bewahren. Der Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion kritisierte scharf, daß man die Briten in Brüssel nun behandle wie ein Clan seine Abtrünnigen.
„Wir sind keine Nationalisten“
Dann allerdings kam das große „Aber“. Wenn Deutschland eine Organisation wie die EU verlassen würde, hätte das aus historischen Gründen eine andere Bedeutung. Unsere Nachbarn, so Gauland, begegneten jedem deutschen Sonderweg mit Mißtrauen. Die Folgen eines solchen Schritts wären unberechenbar, warnte er vor einer europapolitischen Utopie: „Uns ganz aus der EU zu verabschieden, wäre das exakte Gegenstück zu den Maximalforderungen einer Angela Merkel.“
Es sei niemals klug, mit Maximalforderungen in eine Wahl zu gehen. „Wir müssen an dieser Stelle realistisch bleiben!“ Er plädierte für eine „vernunftgeleitete Europapolitik“, die auf eine Reform der EU hin zu ihrem Ursprungsgedanken zielt. Und dann zog Gauland seine rhetorische Allzweckwaffe mit Treffergarantie: Bismarck, den Reichsgründer. Der habe zunächst auch nur den Deutschen Bund reformieren und auf eine Lösung mit Österreich gesetzt. Erst als er dort keinen Verhandlungspartner fand, blieb die kleindeutsche Lösung übrig. „Wir aber haben Partner in Europa, um unsere Ziele zu erreichen“, beendete der Parteichef seinen historischen Exkurs. Und er zählte die italienische Lega, Orbans Fidesz, die polnische PiS und die FPÖ auf.
Politik bedeute das Bohren dicker Bretter, mahnt Gauland an, bevor er mit mit dem Aufruf „wir sind keine Nationalisten, sondern weltoffene Patrioten, keine Utopisten, sondern Realisten“ seine Rede schloß. Als sich danach der Großteil der Delegierten zum Applaus erho, war klar, daß Gaulands Co-Vorsitzender Jörg Meuthen eine Sorge weniger hatte.
Gauland sorgt für Mehrheit
Denn der hatte bereits im Vorfeld des Parteitags an einer Passage des Leitantrags zum Europawahlprogramm Anstoß genommen. Dort hieß es: „Sollten sich unsere grundlegenden Reformansätze … nicht innerhalb einer Legislaturperiode verwirklichen lassen, halten wir einen Austritt Deutschlands oder eine geordnete Auflösung der Europäischen Union … für notwendig.“
Der Spitzenkandidat und zahlreiche andere AfD-Politiker hielten diese Festlegung auf eine fünfjährige Frist für unrealistisch. Doch während der Listenwahl tauchte die Forderung nach dem „Dexit“ in vielen Kandidatenreden immer wieder auf – inklusive Beifallsbekundungen. Hätte sich diese „harte Linie“ im Leitantrag durchgesetzt, wäre dies medial als Niederlage oder Blamage der Parteispitze interpretiert worden.
Gaulands Rede jedoch bescherte einem zuvor zwischen Meuthen und der Programmkommission zuvor hinter den Kulissen ausgehandelten Kompromiß eine klare Mehrheit. Die Option Dexit bleibt, die zwingende Frist ist aus dem Leitantrag herausgenommen. Zusätzlich votierten die Delegierten dafür, einen potentiellen Dexit mit einer vorherigen Volksbefragung zu verknüpfen.
Eher Grundsatz- als Wahlprogramm
Bei der Forderung nach Abschaffung des Europäischen Parlaments setzte sich indes der weitestgehende Antrag durch: Ursprünglich hieß es es im Leitantrag, das EP sollte in ein „Gremium von maximal hundert aus den Nationalstaaten entsandten Delegierten“ umgewandelt werden, die von den Parlamenten der Mitgliedsstaaten proportional zur Stärke der Fraktionen zu bestimmen sind.
Mit anderen Worten: Die bereits gewählten oder noch zu wählenden Kandidaten der AfD ziehen in den Wahlkampf für ein Gremium, dessen künftige ersatzlose Streichung sie fordern müssen. Obwohl Jörg Meuthen ursprünglich gegen diese weitreichende Version war, nannte er sie im Gespräch mit Journalisten die „der inneren Logik entsprechende und daher konsequentere“.
In Teilen enthält das Programm aber auch Passagen zu Themen, die streng genommen gar nicht in der Kompetenz des EP liegen, etwa Familienpolitik die „Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr“. Begründet wird dies mit der Tendenz der EU, sich immer mehr in die Belange der Nationalstaaten einzumischen. In der Sicherheitspolitik folgt für die AfD daraus etwa, die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit („Pesco“) abzulehnen, da man in ihr die Vorstufe einer EU-Armee sieht.
Dadurch liest sich der Leitantrag eher wie ein Grundsatz- als ein Wahlprogramm. Das dürfte vor allem daran liegen, daß er faktisch als ein Sammelsurium der Arbeit in den verschiedenen Fachausschüssen der Bundespartei entstanden ist. Die Herausforderung dürfte darin bestehen, die knapp 60 Seiten in eine Version einzudampfen, die man an den Infoständen unters Wahlvolk bringen kann – und die das dann auch liest.