Ist Kitsch oder Kunst, was uns die Zwischennutzerin des imposanten Gebäudes in der Oranienburger Straße präsentiert, das Postbaurat Wilhelm Tuckermann zwischen 1875 und 1881 nach einem Entwurf von Carl Schwatlo als Postfuhramt hat errichten lassen?
Bereits zu Zeiten ihrer ersten umfassenden Retrospektive in Deutschland hingen die Bilder von Pierre und Gilles längst in öffentlichen Sammlungen, räumten Preise ab, prangten auf Plattenhüllen und Titelseiten seriöser Magazine, waren katalogisiert und monographisch behandelt, die Diskurse über Kitsch und Kunst, Pornographie und Kunst zugunsten letzterer entschieden.
Vor zwölf Jahren zeigte das Münchner Stadtmuseum etwa 180 Originalarbeiten aus dem Zeitraum 1978 bis 1997, und die Abbildung des ein Blumenbeet mit Eigenflüssigkeit wässernden „Petit Jardinier“ (1993) auf der hochoffiziellen Einladungskarte sorgte zwar für Empörung bei Oberbürgermeisters Christian Ude, ansonsten allgemein für nachsichtiges Schmunzeln über Bürgermeisters Empörung. Rembrandts „Raub des Ganymed“ hängt schließlich in Dresden, nicht in München. Was nur hätte ein Ude zu „Le Nain de Jardin“ (2000) in der Berliner Ausstellung gesagt und getan, wo der süße, kleine Gartenzwerg Smail im Faß seinen Zapfen aus dem Spundloch herausgucken läßt – o’zapft ist?
Um bei Zeus und Ganymed zu bleiben: „So wird ergriffen, wer zu ergreifen glaubt“, interpretiert der Religionswissenschaftler Odon Vallet die Bilder von 2001 zu dem Themenkomplex. Der Ganymed von Pierre und Gilles ist kein Knabe mehr, den ein Adler am Schlafittchen gen Olymp heben könnte, er ist zum Jüngling gereift, der seinen Adler empfängt, umarmt, liebt.
Die Berliner Ausstellung zeigt 80 Arbeiten, darunter einige, die heute bereits als Klassiker gelten: Nina Hagen (1993), als Domina und Hexe, an einen Stuhl gefesselt, ganz in schwarzem Lack, Catherine Deneuve als „La reine blanche“ (1991), die auch heute noch provozierende „Triangle Rose“ (1993), aber auch neuere, wie die Totentanzvariation „The Dead Song“ mit Marilyn Manson (2004) und den dunklen Zyklus „Les Plaisirs de la Forêt“ aus den Neunzigern. Prominente und Freunde und natürlich immer wieder Pierre und Gilles selbst begegnen dem Betrachter in seltsamen Verkleidungen und unwirklichen Arrangements. Doch scheinen sie irgendwoher vertraut, all die Matrosen und Schiffbrüchigen, die Heiligen und Märtyrer, insbesondere der pfeildurchbohrte St. Sebastian, schwule Kitsch-Ikone seit der Renaissance, wie all ihre Gegenbilder, die Faune und die verschmitzten Teufelchen. Vertraut von kolorierten Heiligenbildchen, von den Lackbildchen aus der Kindheit, in Schulpausen fleißig getauscht, von idealisierenden Propaganda-Plakaten, von B-Movies und – nicht zu vergessen – von Produkten der pornographischen Industrie. Die einst für unvereinbar galten, Gott und Teufel, Ideal und Idol, Heilige und Hure, Heiliger und Stricher, Kommunikant und Kommunist, sakrale und Pop-Ikone – die Welt der Ex-Ministranten Pierre und Gilles hat Platz für alle.
Der studierte Photograph Pierre Commoy und der studierte Maler Gilles Blanchard begegneten sich 1976 bei der Eröffnung der Boutique von Kenzo in Paris. Seit nunmehr über dreißig Jahren leben und arbeiten sie zusammen. Von schreiend farbigen Photographien aus Selbstbedienungsautomaten ließ sich Gilles dazu anregen, weniger farbintensive Abzüge von Porträtphotographien ihrer Freunde mit Acrylfarben zu übermalen. In Ländern des Mittelmeerraumes sind heute noch solche retuschierten Photographien und Postkarten zu bekommen.
Die Wiederentdeckung solcher aus der Mode gekommenen Techniken der Porträtfotografie führte die Künstler folgerichtig zu Inszenierungen einer oder mehrerer Personen in dreidimensionalem Raum. Pierre kreiert die Fotos und Gilles die Gemälde – jeder greift konstruktiv in die Arbeit des anderen ein. Der Fotografierte spielt eine vorbezeichnete Rolle, er wird zu einer Figur des Gemäldes seines Fotos. Im Titel des Bildes steht neben dem Namen der Rolle stets der Name ihres Darstellers.
Ist Kitsch, der die Bedingungen seiner Entstehung reflektiert, noch Kitsch? Dem Philosophen Lothar Kühne zufolge könne Kitsch zum Psychischen hin als Emotionalität vorgestellt werden, in deren rationalem Korrelat das Wissen vom Widerspruch ausgelöscht ist. Sind im Schönen die Inhalte des Widerspruchs harmonisch organisiert und so auf die Antagonismen des menschlichen Lebens bezogen, wird die ihrer Widersprüche enthobene Schönheit niedlich, also Kitsch. Technisch gesehen ist im Kitsch die Art und Weise der Herstellung verschleiert: Das industriell Gefertigte camoufliert sich als gediegenes Handwerksprodukt, die Massenware als Unikat, ein Postfuhramt als Renaissancepalast.
Den frühen Bildern von Pierre und Gilles ist kaum anzusehen, welche Anstrengung es gekostet haben muß, das Häßliche aus ihrer Welt zu verbannen oder, wo das nicht gelingen durfte, für den Augenblick des Bildes seine Schönheit herzustellen. Wenn das Schöne nichts ist als des Schrecklichen Anfang, dann soll das Schöne immer dauern, damit das Schreckliche sich nicht ins Unerträgliche vergrößere. Das wäre der Kitsch! Doch bleibt das dauernde Glück des Betrachtens mit Furcht durchsetzt, mit Furcht vor dem, was unter der glatten, dünnen Oberflächenschicht sichtbar würde, sollte sie einmal reißen. Das mit Lust erblickte Totalbild des Körpers im Spiegel hat seine Kehrseite in angstbesetzten Zerstückelungsphantasmen. Den Kitschbildern von Knaben, tränenbenetzter Wange, strahlenumglänztem Antlitz entsprechen die Todesbilder von zerhackten Körpern, blutigen Werkzeugen und vom Erlöschen des Lichts. Ein deutscher Dichter, den Pierre und Gilles vermutlich nicht kennen werden, der marmorkalte, warme August Graf von Platen, hat davon gesungen.
In ihrer jüngsten großformatigen Serie „Wonderful town“ träumen Pierre und Gilles den schönen Alptraum des unversehrten Opfers weiter und seinem bösen Ziel entgegen, Clown, Stricher, Soldat und wieder der Heilige Sebastian, vor versehrter Kulisse, Industrie- und Kriegslandschaft, Zivilisationsmüll, fledermausdurchsetzte Nacht. Sie machen im Fleische und in der Seele Weh, die Bilder, Weh nach einer Wirklichkeit, die ganz ohne Retusche erträglich wäre. Das ist der Rückweg vom Kitsch in den Surrealismus. Das ist die Kunst!
Die Ausstellung ist noch bis zum 4. Oktober in der Berliner Galerie c/o, Postfuhramt, Oranienburger Straße 35/36, täglich von 11 bis 20 Uhr zu sehen. Telefon: 030 / 28 09 19 25, Internet: www.co-Berlin.info
Foto: Catherine Deneuve als „La reine blanche“ (1991): Das Häßliche aus der Welt verbannen