Licht- und Trostblick in einer Zeit, in der die Vergangenheitsbewältigungsindustrie à propos des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs vor siebzig Jahren wieder einmal auf kreischenden Hochtouren läuft und die Geschichte Deutschlands als ein einziger Unheilszusammenhang dargestellt wird: Deutschland, so ergab vor einigen Monaten eine sorgfältige Umfrage der britischen BBC, ist das beliebteste Land der Welt.
Das Ergebnis war so eindeutig, daß es von den Medien schnell wieder weggekehrt wurde. Nicht die momentane politische Lage im Land war bewertet worden, sondern das Land als Ganzes, seine Geographie, seine Bevölkerung, seine wirtschaftliche Struktur, seine Mentalität, seine Geschichte. All das erschien den internationalen Bewertern im Vergleich zu den Zuständen und Vorkommnissen etwa in England oder den USA als höchst annehmbar, und selbst solche Länder wie Frankreich oder Japan konnten nicht mithalten. Der „Diskurs“ geriet darüber für einen Augenblick ins Stocken.
Denn dieser Diskurs, jeder weiß es, ist darauf programmiert, Deutschland als potentielles Verbrechernest hinzustellen, günstigstenfalls als eine Art Reha-Klinik, deren Insassen kollektiv unter Dauer-Kuratel gestellt sind, in Sack und Asche zu gehen haben und von früh bis spät an ihre Sünden erinnert werden müssen. Unzählige hochbezahlte (pseudo)-psychologische „Betreuer“ sind unermüdlich damit beschäftigt, ein regelrechtes Sündentrauma zu erzeugen und wachzuhalten, ja es von Generation zu Generation zu steigern und buchstäblich ins Irre hineinzutreiben.
Im Hinblick auf seine innere intellektuelle Verfaßtheit gleicht das beliebteste Land der Welt zur Zeit tatsächlich mehr einem Irrenhaus als einem freien, wohlverfaßten Gemeinwesen. Die herrschenden Kräfte verstehen sich nicht als Exekutoren des Volkswillens, sondern als dessen Verhinderer und tun faktisch alles, um ihn irgendwo „einzubinden“ und dadurch zu neutralisieren. Wer sich querlegt, kriegt peu à peu das ganze behördlich fixierte Zwangsinstrumentarium einer geschlossenen Anstalt zu spüren, vom Essensentzug bis zum Aufenthalt im Karzer.
Der Wahn hat sogar einige konservative Kritiker erfaßt, die die Entwicklung zwar völlig exakt als Weg in den Untergang beschreiben und verzweifelt auf Abhilfe sinnen, aber das Problem letztlich auch nur im Psychologischen sehen. Die „Unheilsgeschichte“ Deutschlands, bedingt durch seine geopolitische europäische Mittellage und durch die Niederlagen in den Welt(bürger)kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts, hätten das Land (wie seinerzeit schon Arnold Gehlen formulierte) „widerlegt“ und dadurch ins Trauma gestürzt. Wir seien eine „widerlegte“ Nation, deren Angehörige nun allesamt nach Umerziehung und Anpassung an die Mentalität der Sieger dürsteten.
Unsinn von hinten bis vorn, behauptet Pankraz. Kaum jemand hierzulande sehnt sich von sich aus nach Sündenkutte und Zwangsanpassung, warum auch? Die Sünde ist sowohl nach christlicher als auch nach rationalistisch-aufklärerischer Überzeugung eine Tat von einzelnen. Kollektivschuld gibt es nicht, sie wird einem lediglich „von oben“, von Politikern, Medien und anderen „Betreuern“, eingeredet. Und wenn es sie denn gäbe: Wieso sollten exklusiv die Deutschen im Sündenstand verharren? Die Konten der Verbrechen, die im Namen von Völkern begangen wurden, sind durchaus vergleichbar. Sie alle müssen von Historikern frei und genau erforscht werden dürfen.
Was aber die angebliche „Widerlegtheit“ der Deutschen betrifft, so kann Pankraz nicht die Spur davon im realen Verlauf der Geschichte erkennen. Die Deutschen wurden im Mittelalter zu Erben des römischen Imperiums, des ersten europäischen Reiches, das es gegeben hat. Genau diese jahrhundertelange Funktion als Verwalter des Reiches und seiner Idee hat sie – partiell selbst in schwersten Kriegsumständen – stets vor nationaler Einseitigkeit, etwa vor Sprachimperialismus oder kultureller Einheitssoße, bewahrt, was sie positiv von Briten oder Franzosen abhebt.
Stets gehörte zur Mentalität der Deutschen erkennbar die Überzeugung, daß der Staat zwar einerseits die inneren Bindekräfte des nationalen Bewußtseins braucht, um sich optimal zum Wohle aller entfalten zu können, daß aber andererseits zu diesem Bewußtsein substantiell die institutionelle Verbindung mit anderen Nationen und die Preisgabe gewisser Souveränitätsrechte, wie sie sich im Zuge der modernen Staatslehre herausgebildet haben, dazugehört. Die Einheit der Völker Europas ist in dieser Sichtweise gerade deshalb gefordert, weil sie integraler Bestandteil der nationalen Identität ist, geradezu ihr Garant.
Insofern kann überhaupt nicht die Rede davon sein, daß die deutsche Tradition durch die Nachkriegsentwicklung und speziell die Bildung der EU „widerlegt“ sei. Das Gegenteil ist der Fall. Das moderne Deutschland ist zwar nach 1945 territorial grausam reduziert worden, doch es liegt nach wie vor in der Mitte Europas, und seine Wirtschaftskraft und sein seit alten Reichszeiten einverseelter Stil, vom Ganzen her zu denken, machen es ganz logisch zum Motor der Union, zu ihrem Herzen. Nicht von ungefähr wird die EU in europafeindlichen Kreisen etwa Englands oder Polens immer wieder als „deutsches Projekt“ bezetert und verteufelt.
Jeder hat eben seine eigenen Perspektiven, und ob einer in seiner nationalen Tradition widerlegt oder glorios bestätigt wird, ist meistens reine Ansichtssache. Deutschland hat den Weltbürgerkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts verloren, im Weltbürgerfrieden des einundzwanzigsten mag es sich durchaus auf der Siegerseite finden. Das beliebteste Land der Welt ist es ja bereits. Es kann sich nur noch selbst ein Bein stellen.
Die größte Gefahr kommt von innen. Wer sich von vornherein als geborener Verlierer und widerlegter Ursünder begreift, der fällt als politischer Akteur aus. Ein Europa mit verfaultem Kern aber wäre gar kein Europa mehr.