Am Montag, den 16. Mai, wird sich in der Berliner Philharmonie wieder einmal Unerhörtes ereignen. Ein Pianist wird aufspielen, bei dem man jetzt schon sagen kann, daß seine Darbietung grauslich sein wird. „Er flüstert, redet, zischelt, schreit. Er singt laut mit. Er grunzt, wiehert, meckert, blökt, röhrt. Er bläst die Backen auf wie ein Trompeter und stößt die Luft aus wie ein Auspuff die Gase“ – so beschrieb Klaus Umbach für den Spiegel ein Konzert David Helfgotts vor vierzehn Jahren.
Denn Helfgott, bekannt durch den Film „Shine“, ist nicht nur Pianist, sondern auch verrückt. Ein Wunderkind soll er einst gewesen sein, ein Klaviervirtuose ersten Ranges. Man kann es aber nicht mehr hören, denn das seelische Chaos pflanzt sich auf den Klaviertasten fort. Doch dem Publikum wird das egal sein. Wieder und immer wieder wird es in frenetischen Jubel ausbrechen, obwohl das Geschehen auf der Bühne nur eines zeigen wird: einen gebrochenen Pianisten, der ihnen vorgeführt wird.
Seltsam, da wird ein Publikum nach einem zweifelsohne erbärmlichen Auftritt den Saal verlassen und sich auf dem Heimweg verklärte Worte zuflüstern wie „berührend“ oder „bezaubernd“. Woran liegt das? Man schaue nur genau hin und man wird feststellen: daran, weil das Publikum nicht den Pianisten, sondern sich selbst gefeiert hat. Dieser diente selbst nur als Instrument, auf dem man die eigenen Gefühle erklingen ließ. Was war das aber, in Worten gefaßt, das sich hier offenbarte?
Unterschied zwischen Bild eines Gefühls und dem Gefühl selbst
„Der gewöhnliche Mensch, so wie du, hört nur die Mißklänge eines Behinderten. Ich aber höre durch diese Mißklänge hindurch etwas Höheres, zu dem du keinen Zugang hast. Ich bin dir daher überlegen. Und das zeige ich dir in meiner Ehrerbietung für jemanden, den ich verachte.“ Es ist schon so – das Bild, welches wir von unseren Gefühlen haben und die Gefühle selbst müssen nicht übereinstimmen. Sie können auch das völlige Gegenteil darstellen. Man muß nur genau hinschauen.
Der Schein der Modewelt, die ganze Künstlichkeit, in der das Makellose über den Laufsteg schreiten soll. Da, ein kurzes Atemholen, ein betretenes Schweigen – eine künstliche Prothese ragt als doppelt Fremdes in den Raum. Brüllend wie ein Tier reißt es das Publikum von den Sitzen, laut applaudierend. Wem jubeln sie in Wirklichkeit zu? Dem Behinderten? Wofür, etwa für seine Behinderung? Er würde gerne mit jedem einzelnen von ihnen tauschen. Sie selbst sind es, die sich bejubeln.
Sokrates gab nicht viel auf Äußerlichkeiten und entsprechend stark verschlissen war seine Kleidung. Einer seiner eifrigsten Schüler, Antisthenes, wollte ihn in dieser Bedürfnislosigkeit übertreffen und erschien eines Tages völlig zerlumpt. Was sich äußerlich als uneitel darstellte, war aber in Wirklichkeit die Hypertrophie des Gegenteils. So spottete Sokrates: „Durch die Löcher deines Mantels blinkt mir die Eitelkeit entgegen.“ Wer wachen Auges durch das Leben geht, der sieht heute viele solcher Löcher.
Eine hervorragende geistige Übung
Es ist eine hervorragende Übung, wenn sie auch manchmal schwer auszuhalten ist: Man betrachte seine Mitmenschen, die sich als Ausdruck schönen Menschentums verstehen. Und dann vergleiche man ihr aufgeblasenes Selbstbild mit dem, was als eigentlicher Inhalt ihren Gefühlen unterlegt es. Immer wieder wird man feststellen: es ist die krasseste Negation des Geglaubten. Mitleid, so stellte Friedrich Nietzsche einmal fest, ist auch eine Form der Verachtung und Erniedrigung des anderen.
Und wenn man sich hierin eine Weile schult, dann mag man den solchermaßen geschärften Blick über größere Zusammenhänge schweifen lassen. Man betrachte dann, was als wirkliches Gefühl – nicht was die einzelnen glauben – so hinter gewissen Hysterien der Gegenwart steht. Nehmen wir einmal den Multikulturalismus. Oh, dieses edle Ding, diesen kategorischen Imperativ der guten Laune, der wichtiger ist als alles andere, sogar als die Zukunft unserer Kinder.
Haben Sie es herausgefunden?