Wer von der Bundesrepublik als einer Republik des Verzichts spricht, sollte vom Verhältnis des Verzichts zu den realpolitischen Möglichkeiten der jüngeren Vergangenheit nicht schweigen, und diese Möglichkeiten waren natürlich angesichts des Desasters von 1945 für alle deutschen Nachfolgestaaten extrem begrenzt. Als Karl Renner im April 1945 zum wiederholten Mal das Amt eines Kanzlers der Republik Österreich übernahm, da tat er das als erklärter Deutschösterreicher daher nicht, ohne seine Mitarbeiter daran zu erinnern, daß an der erneuten deutschen Teilung durch die Abspaltung Österreichs nichts zu ändern sei. Das sei international auf Großmachtebene so beschlossen, dagegen sei nichts auszurichten und so hart es auch für den einzelnen sein würde, man müßte eben das beste daraus machen.
Der selbsterklärte Realpolitiker Konrad Adenauer bot dagegen als Kanzler der Bundesrepublik seinen ganzen Elan auf, als in den ersten Bundestagssitzungen 1949 gelegentlich von Abgeordnetenseite die Erinnerungen daran auftauchten, daß die neu konstituierte Bundesrepublik als größer deutscher Reststaat angesichts des Fehlens völkerrechtlicher Abmachungen sehr gut auch für Österreich und die Sudetengebiete sprechen könnte. Allerdings wies er jeden Versuch in diese Richtung nicht nur aus außenpolitischem Kalkül zurück, sondern zudem aus kleindeutsch sozialisierter Überzeugung.
Schließlich ließ man sich in der Bundesrepublik Deutschland von den Alliierten die Vorstellung eines angeblich weiterbestehenden Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937 aufdrängen, was eine ganz eigentümliche Kombination aus illusorischer Nostalgie und vorauseilendem Verzicht darstellte. Irgendwo weiterbestehen mußte dieses Reich aus alliierter Sicht ohnehin, denn irgendwann sollte ja jemand einen Friedensvertrag unterzeichnen, und das konnte eigentlich nur ein Vertreter des früheren Kriegsgegners sein, eines Kriegsgegners, der deshalb zwangsläufig bis zu diesem Zeitpunkt weiterbestehen mußte.
Politische Wunschvorstellungen
Daher wurde in keiner der alliierten Nachkriegserklärungen je behauptet, das Deutsche Reich sei untergegangen, nur – dieses Deutsche Reich hatte am 31. August 1939 über allgemein, auch von den kommenden Kriegsgegnern anerkannte Grenzen verfügt, und das waren andere als die von 1937.
Auf die Erinnerung daran und Konsequenzen daraus verzichteten Regierung wie Opposition und Gesellschaft. Selbst die Zeitgeschichtsforschung tat sich schwer damit, auch nur eine Zweistaatenperspektive zu bewahren und Karl Dietrich Erdmann war offenbar der einzige Historiker, der – Mitte der 1980er Jahre – das Projekt einer gesamtdeutschen Geschichte aller drei nach 1945 etablierten Staaten anging. Wenn es dagegen aus politischen Kreisen gelegentlich hieß, „Verzicht ist Verrat“, so meinten auch die Herren Ollenhauer und Brandt genau wie Adenauer eigentlich nur den Verzicht auf ein Deutschland in den Grenzen von 1937.
Aber auch diese Einstellung bröckelte zusehends mit der Herausbildung der besonderen bundesdeutschen Identität, die unter den drei deutschen Teilstaaten die alleinige Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen gedachte und die laufenden Kosten aus dem eigenen aktuellen Fundus bestreiten wollte, ohne völkerrechtliche Würdigung des Vorausgegangenen.
Obwohl er eine Begründung in den realen Machtverhältnissen findet, erstaunt dennoch der fast völlige Verzicht auf eine gesamtdeutsche Perspektive in Politikwissenschaft, Zeitgeschichtsforschung und eben in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik. Es war zu jeder Zeit ein Mißverständnis, aus einem weiterbestehenden Deutschen Reich offensive politische Wunschvorstellungen ableiten zu können. Wer aber die Verantwortung für alles übernehmen sollte, der tat eigentlich gut daran, den Blick auf das ursprüngliche Ganze jederzeit zu bewahren. Und sei es nur, um sich selbst und andere vollständig daran zu erinnern, was völkerrechtlich die Norm wäre, auf was bereits verzichtet wurde und was das eigentlich mal war – „ganz Deutschland“.