Vergeßt Libyen! möchte man resignierend mit Blick auf den Maghreb-Staat ausrufen, der sich seit dem Sturz Gaddafis im Jahre 2011 ähnlich wie der Irak zum „failed state“ zu entwickeln droht. Der Versuch, mittels einer westlichen Militärintervention in einem Land, das durch Stammes- und Clandenken, aber auch durch archaische Denkmuster bis hin zur Blutrache gekennzeichnet ist, eine Zwangsdemokratisierung herbeiführen zu wollen, hat zu einem Machtvakuum geführt, in dem an die Stelle funktionierender staatlicher Institutionen die Herrschaft von Milizen getreten ist.
Seit Mitte Dezember 2015 steht nun die Hoffnung im Raum, einen wichtigen Schritt in Richtung Befriedung machen zu können. Die beiden rivalisierenden Lager – das sind auf der einen Seite die Truppen und Milizen der überwiegend westlich orientierten Regierung Abdullah Thenni mit dem Übergangspräsidenten Aguila Saleh Issah in Tobruk und auf der anderen Seite die in Tripolis herrschende islamistische Gegenregierung um den ehemaligen Präsidenten Nuri Busahmein und des Gegenministerpräsidenten Chalifa al-Ghawi – vereinbarten einen Friedensvertrag, der bis 2018 einen Neuaufbau des libyschen Staates vorsieht.
Im Februar einigte man sich überdies auf eine Einheitsregierung. Der Präsidentschaftsrat gab eine achtzehnköpfige Kabinettsliste bekannt; als designierter Ministerpräsident gilt der parteipolitisch unabhängige libysche Architekt Fajes al-Sarradsch.
Zweifelhafter Friedensvertrag
Ihre Amtsgeschäfte konnte die Einheitsregierung bisher aber nicht aufnehmen. Unter anderem deshalb, weil das Parlament in Tobruk die Entmachtung des Armeeoberbefehlshabers Haftar ablehnt und aus diesem Grund einer Einheitsregierung die Zustimmung verweigert. Haftar wird insbesondere sein Vorgehen gegen islamistische Milizen angekreidet. Unterschwellig wird dem General offenbar unterstellt, er wolle à la longue die Macht in Libyen an sich reißen.
Ob der Friedensvertrag mittel- bis langfristig tragfähig ist, darf aber noch aus anderen Gründen bezweifelt werden. Etliche bewaffnete Gruppierungen waren nämlich an den Verhandlungen nicht beteiligt. Der Einfluß der politischen Vertreter auf diese Gruppen dürfte vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen kaum ausreichen, um diese Gruppen zu disziplinieren.
Neue Metastase des IS
Die Lage in Libyen wird weiter dadurch kompliziert, daß das Land im Schatten des Syrienkrieges mehr und mehr zu einer neuen Metastase des IS zu werden droht, der hier im Herbst 2014 ein Emirat ausgerufen hat. Es dürften unter anderem die umfangreichen Ölreserven des Maghreb-Staates sein, die den IS in Libyen auf den Plan gerufen haben. Die Dschihadisten finanzieren sich zu einem guten Teil mit Rohöl aus erbeuteten Lagerstätten.
Die IS-Kombattanten, die als Arbeitgeber, weil sie Sold zahlen, durchaus eine gewisse Attraktivität für perspektivlose junge Libyer entfalten, bekämpfen beide Regierungen und haben sich insbesondere im Raum um die Hafenstadt Sirte – der Heimatstadt Gaddafis – festgesetzt. Und auch im Südwesten des Landes findet eine potentielle Einheitsregierung reichlich Konfliktstoff vor: Die dortigen Tuareg haben das Machtvakuum genutzt, um einen faktisch unabhängigen Staat mit der Stadt Ghat als Zentrum zu gründen.
Flüchtlingsmassen warten auf Überfahrt
Es sind indes nicht nur die IS-Umtriebe, die im Westen den Ruf nach einer neuerlichen Intervention haben anschwellen lassen, sondern auch die Aktivitäten von Schlepperbanden in Libyen, die dort mehr oder weniger unbehelligt bleiben. 150.000 bis 200.000 Flüchtlinge sollen derzeit auf eine Überfahrt nach Europa warten. Durch die verschärften Grenzkontrollen auf der Balkanroute könnte deren Zahl bald weiter ansteigen.
Bisher können Marineschiffe aus der EU gegen verdächtige Schiffe oder Boote nur in internationalen Gewässern vorgehen, haben aber keine völkerrechtliche Grundlage für ein Einschreiten in libyschen Hoheitsgewässern. Damit gibt es auch keine Handhabe für die anvisierte Vernichtung von Schlepperbooten an Land, wobei hier auf die naheliegende Frage, welche Merkmale ein derartiges Boot denn aufweist, noch eine plausible Antwort aussteht.
Neue Luftschläge in Libyen?
Es gibt aber noch andere Hindernisse: Eine Hilfsanforderung einer anerkannten libyschen Regierung wird es möglicherweise so rasch nicht geben. In den Sternen steht weiterhin, wie der Erfolg eines Militäreinsatzes nachhaltig gesichert werden kann. Die heutige Lage steht ja ursächlich mit der militärischen Intervention von 2011 im Zusammenhang. Die damalige „Koalition der Willigen“ hat nach dem Sturz Gaddafis schlagartig jedes Interesse an dem Wüstenstaat verloren, anstatt diesen weiter zu unterstützen.
Dessen ungeachtet bereiten die USA, Frankreich und Großbritannien, folgt man britischen oder französischen Medienberichten, offenbar bereits seit einiger Zeit einen Luftkrieg in Libyen gegen den dortigen IS-Ableger vor. Die Aufklärung erfolge bereits mit Satelliten, Drohnen und bemannten Flugzeugen.
Druck auf Italien
Die Amerikaner üben unter anderem Druck auf Italien aus, das bereits einen Luftwaffenstützpunkt in Sizilien für US-Drohnenmissionen in Libyen zur Verfügung gestellt hat, sich an möglichen militärischen Operationen in dem Wüstenstaat zu beteiligen. Rom hat dieses Ansinnen bisher mit dem Hinweis abgeblockt, diesem erst dann entsprechen zu wollen, wenn eine entsprechende Anfrage einer Einheitsregierung vorliege.
Man kann das als Verweigerung interpretieren, aber auch als wohlbegründetes Insistieren auf Rahmenbedingungen, die erfüllt sein müssen, soll eine derartige Intervention die Lage nicht noch weiter verkomplizieren. Nicht zuletzt davon wird es abhängen, wie effektiv die Schlepper-Mafia bekämpft werden kann.
JF 11/16