Im Ergebnis der Fährnisse des Lebens bin ich – vorübergehend – nach Neubrandenburg gezogen. Ich wollte nie dorthin, so wie man reflexartig wohl Eisenhüttenstadt meidet oder Bitterfeld. Sehr vermutlich zu Unrecht, weil gerade dort etwas gedeihen kann, wo man es nicht vermutet: Zähe Schattenpflanzen. Jedenfalls gibt es in Mecklenburg Schöneres als die einst „jüngste Großstadt der DDR“. Im Zentrum ihrer am Ende des Zweiten Weltkriegs völlig zerstörten Innenstadt – einst die backsteingotische, dann barocke Perle des Großherzogtums Mecklenburg-Strelitz! – befindet sich an einem entblößt nackt und kalt wirkenden Marktplatz heute eine alles dominierende Shopping-Mall; und als sich daneben, im ehemaligen „Haus der Kultur“, noch der Textildiscounter „H & M“ breitmachte, galt das vielen als Großereignis und wurde wie ein Volksfest befeiert. Früher Aufmärsche und ideologische Embleme, heute der Kult um suggestive Marken. Typisch ostdeutsch?
Ich logiere möbliert, in einem Wohnheim. Das kleine Zimmer ist sehr funktional eingerichtet. Mit einer Sporttasche Gepäck tritt man ein und verfügt sofort über alles, was man braucht. Noch ein Radio auf den Tisch und Deutschlandfunk eingestellt. Wasserkocher kaufen. Rundum versorgt. Wie vieler Dinge meinte man dagegen früher zu bedürfen? Dieser Gedanken fällt einen an, wenn man innerhalb einer Viertelstunde alles eingeräumt hat. Man merkt: Mehr paßt nicht in die abgewetzten Schränke. Kapazität ausgereizt. Krasses „Down-Shifting“, wie die „Lifestyler“ sagen würden.
Ein ganzes Leben ist untergebracht auf der Fläche einer komfortablen Zelle. Oder Klause. Draußen ein langer Gang mit Notbeleuchtung, so wie früher der Kompanieflur meiner Einheit, allerdings mit schallschluckendem Teppichboden; ein paar Türen weiter eine Gemeinschaftsküche, die freilich an sowjetische Verhältnisse erinnert, an die Kommunalkas in den Plattenbezirken der russischen Großstädte, wo man sich zwei Elektrokocher und zwei Kühlschränke teilt. Wie immer, wenn etliche Mieter etwas benutzen, nicht gerade sauber, aber praktisch. Hygiene wird überhaupt überschätzt, sagt man sich vorbeugend und denkt: Stärkt das Immunsystem!
Die Kultur im Wohnheim beginnt damit, daß jeder seinen Dreck selbst wegbringt
Sobald Gemeinschaft in gemeinschaftliche Verantwortung tritt, wird es umgehend sozialistisch. Wasser und Strom sind hier bei einer für den Komfort etwas hochgegriffen erscheinenden Miete nämlich inklusive, und deswegen verbrauchen die Leute kräftig davon. (Ist ja bezahlt!) Mülltrennung bleibt Privatsache, Wasser läuft, Elektrogeräte auch. Eine Mini-DDR! In Miniatur mit den ökonomischen und ökologischen Gründen ihres Untergangs. Der Gipfel der ominösen Gewohnheiten auf meiner Etage: Zweimal in der Woche erscheint eine emsige Putzfrau und macht alles sauber, die engen „Unterkünfte“ wie ebenso die siffige Küche. Der kommunale Vermieter möchte es offenbar vermeiden, daß wir hier äußerlich auf das Niveau von Gorkis „Nachtasyl“ absinken. – Ich war lange Mentor in einem Internat. Also drehe ich die Heizung runter, still und nicht didaktisch, und sorge mit ein paar Griffen für Ordnung, wie ich es früher auf dem Flur der Schüler tat. Nur um die Reinigungsfrau zu entlasten. Weil’s sich so gehört. Basta. Die Kultur beginnt damit, daß jeder seinen Dreck selbst wegbringt.
Diese besondere Herberge zählt zum Hauptkomplex dessen, was das ansonsten etwas postsozialistisch spröde Neubrandenburg weltbekannt gemacht hat, zum leistungssportlichen Zentrum des hiesigen Sportklubs, dem ein Sportgymnasium angeschlossen ist, das sich im Untertitel selbstbewußt „Elite-Schule“ nennt – gemessen am Einerlei der üblichen Schulen zu Recht, jedenfalls was die Ergebnis-Statistiken des Neubrandenburger Leistungssports angeht. Die meisten meiner Nachbarn sind Spitzensportler auf Trainingsaufenthalt und Sportgymnasiasten. Das erfrischt! Alles andere als ein Suff- und Totenhaus. Rein physisch ist man vielmehr umgeben von einer an Riefenstahl-Motive erinnernden Athletik-Ästhetik. Meinem Fenster gegenüber befindet sich das prächtig-moderne Jahnsport-Forum, eine Trainings- und Wettkampfstätte, die an räumlicher Großzügigkeit und Technik ihresgleichen sucht. Blicke ich hinaus, erlebe ich täglich Sportfernsehen der Extraklasse. Irgendwas läuft immer in der Halle. Kürzlich etwa boxte sich dort Jürgen Brähmer wieder zum Weltmeister durch.
Da ich ein nervöser Schläfer bin und oft sehr früh aufwache, gehe ich joggen, um mich zu erfrischen, die Nachtgespenster zu vertreiben und gleich mal den tückischen depressiven Schüben vorzubeugen, die man heraufbeschwört, bleibt man nur glotzend im Nest. Egal, wann ich laufe, selbst gegen drei, also noch vorm eigentlichen Morgen, bin ich nie allein. Irgendwer läuft noch: lange durchtrainierte Kerle, Frauen mit schnittiger Silhouette. Ich fühlte mich schon an Sequenzen aus dem französischen Film „Die purpurnen Flüsse“ erinnert.
Termine im Kraftraum und eine Ehrenrettung auf den zweiten Blick
Solch ein Ambiente bringt einen in Gang. Es würde gar nicht passen, sich eine Zigarre anzubrennen, abgesehen davon, daß sofort die Rauchmelder schrillten. Nicht mal Whisky gehörte hierher. Nein, ich lebe mit zwei Garnituren Sportzeug, eine trocknet, mit der anderen trainiere ich, quasi im Windschatten des Welt-Leistungssports. Was will man sich da über den Dreck in der Küche und wimmelnde Keime im Kühlschrank aufregen? Wenn man dafür in so vitalisierender Gesellschaft ist. Sicher, mein Alter liegt hier sichtlich über dem Durchschnitt; aber sobald man in Trainingsklamotten den Flur entlangschlendert und redlich von seinen Kraft- und Ausdauereinheiten schwitzt, ist man akzeptiert und gehört dazu. Gerade alte Säcke, die trotz Meniskusschaden wacker zu sportlicher Mehrleistung entschlossen sind. Da wird schon mal auf Augenhöhe abgeklatscht: Na Alter, hast dir auch wieder die Kante gegeben! Wünsch uns mal Glück für’n Wettkampf. Wir müssen rüber ins Jahn-Sportforum.
Anders, denkt man zunächst, hält man es in Neubrandenburg auch nicht aus. Das hier ist weder Weimar noch Dresden. Man braucht wenigstens ein Paar Laufschuhe und Termine im Kraftraum. Aber zur Ehrenrettung: Diese Stadt, zuerst durch Tilly zerstört, dreihundert Jahre später noch verheerender durch die Rote Armee, bietet mehr, als ihre Betoniertheit ahnen läßt, u. a. die Konzertkirche mit einer erstklassigen Philharmonie, ein Schauspielhaus und an Literarischem die Fritz-Reuter-Gesellschaft sowie das Brigitte-Reimann-Literaturzentrum. Und wem die Stadt zu öde ist, der kann an den Tollensesee ausweichen – nicht nur zum Lauf- und Kanutraining.