Der Mensch strebt für gewöhnlich danach, daß es ihm und den Menschen, denen er sich verbunden fühlt, gut geht. Und gut gehen, das heißt für ihn die Abwesenheit von Leid und Tod. Der Hirte will üppige Weiden und keine Dürre, die ihm das Vieh dahinrafft. Der Bauer will eine reiche Ernte und nicht Soldaten, die ihm das Feld verheeren. Und beide wollen diesen Zustand nicht nur in diesem Jahr, oder im nächsten Jahr, sondern überhaupt zu allen Zeiten. Immer soll es ihnen gut gehen, nie soll das aufhören.
Aber Schmerz, Leid und Tod, sie gehören zum Leben. Es ist das erste, was wir von dieser Welt empfangen, und das letzte, was sie uns mitgibt. Und so sehr wir auch danach streben, Schmerz, Leid und Tod, wenn schon nicht aus der Welt, so wenigstens aus unserem Bewußtsein zu verbannen, so werden sie uns doch unser ganzes Dasein hindurch begleiten. Werfen wir sie vorne aus dem Haus, so treten sie durch den Nebeneingang wieder ein. Sie müssen das tun, denn ohne sie gäbe es kein Leben.
Leben, das heißt auch die Konfrontation mit Leiden, mit Tod. Ohne diese Widerstände könnte sich der Mensch nicht weiterentwickeln. Ein Leben ohne Leiden, ohne Tod – als ungeborenes Kind würde der Mensch ewig dahindämmern, wohl behütet im Mutterleib. Jener glückselige Zustand, insgeheim wünschen sich ihn viele wieder herbei. Keine lastende Verantwortung, kein quälendes Wissen, keine drückende Sorge, keine irrlichternde Freiheit, sondern bloßes, kummerloses Dasein.
Nur mit dem Tod enden alle Kümmernisse
Dieses kummerlose Dasein, wer hättes es nicht gerne? So streben alle nach ihrem weltlichen Glück, nach Gesundheit, nach Reichtum, nach allen Dingen, welche ihnen in ihren Augen ein möglichst behagliches Leben ermöglichen. Und doch, sie dürfen diesen Zustand nicht erreichen. Er würde den völligen Stillstand ihrer Entwicklung und damit ihres Lebens bedeuten. Denn das kummerlose Dasein, das ist in Wirklichkeit nur ein anderer Name für Tod. Nur mit ihm enden alle Kümmernisse.
Ein seltsames Paradoxon. Mit aller Macht flieht der Mensch vor Schmerz, vor Leid, vor dem Tod. Doch ohne diese Konfrontation ereilt dem Menschen der unerkannte Tod. Der Tod ohne Schmerz, ohne Leid, das ist der geistige Tod: der Tod im Leben. Äußerlich mag der Mensch noch als Hülle weiterexistieren. Herumlaufen, genießen, sich fortpflanzen, das alles kann er. Doch innerlich ist er bereits vor langer Zeit gestorben. Ein Mensch ohne Spannkraft, ohne Eigenständigkeit, ohne Fähigkeit zur Freiheit.
Ein solcher Untoter, er kann uns die Hand schütteln, mit uns sprechen, vielleicht sogar erzählen, was für ein wundervolles Leben er führt. Doch betrachten wir ihn nur genauer, so müssen wir mit Schrecken feststellen, daß wir gerade mit einem Toten reden. Er weiß es nur noch nicht, wie ihm überhaupt alles an Erkenntnis fremd ist. Denn um zu erkennen und nicht einfach in unserem Körper einzuschlafen brauchen wir etwas, das uns wach hält. Und das ist Schmerz, das ist Leid, das ist die Konfrontation mit dem Tod.