Wenn die Präsidenten Venezuelas, Boliviens, Paraguays und Nicaraguas regelmäßig ohne Krawatte zu offiziellen Anlässen erscheinen und diese Übung Vorbildfunktion gewinnt, ist das keine Äußerung individuellen Geschmacks mehr und auch keine Folklore oder Anpassung an klimatische Gegebenheiten, sondern eine politische Demonstration: Das Ablegen der Krawatte hat immer einen Beigeschmack von Rebellion. Die Fama will wissen, daß der Begriff „Krawatte“ auf die Halsbinden kroatischer Söldner in französischen Diensten zurückgeht, die im 17. Jahrhundert eine kunstvolle Halsbinde trugen, die „à la croate“ — „auf kroatische Weise“ geschlungen war. Ludwig XIV. habe diese Gewohnheit übernommen, einen „Cravatier“ in sein Gefolge genommen und die Krawatte dadurch zur Mode gemacht. Allerdings läßt sich der Begriff „Krawatte“ schon im 15. Jahrhundert nachweisen, und die Binder, die bis zum 19. Jahrhundert in Gebrauch kamen, verdrängten zwar die Gewohnheit, Spitzenkragen zu tragen, ähnelten aber kaum den heutigen Krawatten, deren Schnitt überhaupt erst 1924 festgelegt wurde. Zu dem Zeitpunkt war die Krawatte schon zum notwendigen Accessoire seriöser Männerkleidung geworden, jedenfalls soweit man Wert darauf legte, als „Herr“ zu gelten. Denn daß arme Leute, Handwerker und Arbeiter wegen der Art ihrer körperlichen Arbeit keine Krawatte trugen, war selbstverständlich, es handelte sich aber — wie beim weißen Kragen und den Manschetten — auch um einen äußerlichen Standes- oder Klassenunterschied. Was erklärt, warum revolutionäre Bewegungen, die soziale und mit ihnen symbolische Differenzen beseitigen wollten, es regelmäßig auf die Krawatte abgesehen hatten. Das galt schon für die Sansculotten der Französischen Revolution, die nicht nur anstelle der vornehmen Kniebund- proletarisch lange Hosen trugen (noch dazu aus gestreiftem Stoff, wie er sonst zum Narrenkostüm gehörte), sondern auch ein Halstuch anstelle der Krawatte anlegten. Dem Muster folgten alle späteren Revolutionäre und dann die Linke überhaupt. Neben dieser Verwerfung des Krawattenzwangs steht ein anderer, harmloser, der allerdings von Fall zu Fall mit dem der politischen Opposition gegen den Binder einhergeht. Es handelt sich dabei um den offenen Kragen der Künstler und Freigeister. In Deutschland sprach man unter Verweis auf Bildzeugnisse des Nationaldichters vom „Schillerkragen“. Der war im 19. Jahrhundert unter Studenten und in der Bohème verbreitet und hielt zuletzt noch Einzug in der Jugendbewegung des Kaiserreichs, nachdem sich der „Wandervogel“ halbwegs von der Bevormundung durch Eltern und Lehrer befreit hatte. In den Vorstößen der Kulturrevolution von 68 liefen jugendbewegte und linke Tendenzen auch insofern zusammen, als man nach kurzem Zögern — die ersten Demonstrationen zeigten noch Herren im Jackett und Damen im Kostüm — die Krawatte als Ausdruck bürgerlicher Herrschaftsmechanismen verwarf. Davon hat sie sich bis heute nicht erholt. Es gab zwar in den neunziger Jahren so etwas wie eine kleine Renaissance, aber wenn man den Modemachern glauben darf, dann ist es damit schon wieder vorbei. Das Verhalten der lateinamerikanischen Führer steht in der linken Tradition, es geht aber auch um die sinnbildliche Ablehnung „des Westens“. So war schon die Verwerfung der Krawatte bei den ersten Politikern Israels zu deuten (während die Vertreter der Araber in europäischer Eleganz auftraten), die sogar bei zeremoniellen Anlässen mit offenem Kargen erschienen, dann folgte die Einheitsuniform der asiatischen Kommunisten samt Stehkragen und schließlich das Verbot für Politiker des Irans, sich öffentlich mit Krawatte zu zeigen. Womit man bei der grundsätzlichen Erwägung über Mode und politische Symbolik angelangt wäre. Daß ein solcher Zusammenhang besteht, ist unbestreitbar, versteht man darunter, daß Befolgung oder Nichtbefolgung eines Dresscodes immer auch eine Aussage über Loyalität oder Nichtloyalität ist. Die Geschichte kennt dafür zahlreiche Beispiele. Eines der ältesten ist übrigens der Entschluß des athenischen Adels, während der Perserkriege die allgemeine ionische Stammestracht abzulegen, um sie gegen die dorische einzutauschen. Das war eine sinnfällige Parteinahme für das — dorische — Sparta und dessen aristokratische Verfassung, gegen die Tendenz zur Demokratie in der eigenen Heimatstadt. Die JF-Serie „Politische Zeichenlehre“ des Historikers Karlheinz Weißmann wird in zwei Wochen fortgesetzt.