„Gut Moores, Freistett es oul foddich!“, ruft Liliya Klassen auf plattdeutsch. Auf hochdeutsch: „Guten Morgen, das Frühstück ist fertig!“ Bald herrscht reger Betrieb am Tisch der Familie Klassen. Liliya und ihr Ehemann Heinrich, seit 27 Jahren verheiratet, haben sieben Kinder: Angelina, John, Benjamin, Mathias, Anette, Alvina und Rudolf. Mit ihnen sprechen die Eltern hochdeutsch, untereinander sprechen die Eheleute ein altes Platt. Angelina und Mathias sind schon ausgezogen, die anderen fünf Kinder wohnen noch zu Hause und lassen es sich gemeinsam mit ihren Eltern schmecken: Brot, Butter, Wurst und Käse, Kaffee oder Tee, der jüngste, der 14jährige Rudolf, trinkt lieber Milch.
Ein ganz normaler Morgen, wie für Millionen anderer deutscher Familien, den Mutter Liliya der JUNGEN FREIHEIT schildert. Doch nicht mehr lange, denn die 49jährige Deutsche soll abgeschoben werden. Wie kann das sein?
Liliya besitzt keinen deutschen Paß, sondern nur einen kasachischen. Dort, in Kasachstan, kam sie am 9. Mai 1976 als Angehörige der deutschen Minderheit zur Welt. Ihre Eltern sind Deutsche, alle Großeltern: Deutsche; Kinder und alle sechs Geschwister: Deutsche. Während des Zweiten Weltkriegs wurden ihre Vorfahren von Stalin in der Ukraine enteignet und nach Kasachstan vertrieben. Liliya, geborene Dück, wächst in der kasachischen 500.000-Einwohner-Stadt Karaganda auf. Ihre Familie spricht das Platt ihrer Vorfahren und Russisch, Hochdeutsch lernt Liliya erst später. Dafür trifft sie dort ihren Mann Heinrich erstmals. Im November 2020 beschließen sie, nach Deutschland zu gehen, wo die Familie seitdem in der kleinen Gemeinde Eberstadt im Landkreis Heilbronn in Baden-Württemberg lebt.
Die Familie beantragt das falsche Visum
„Wir hatten schon öfter darüber nachgedacht, nach Deutschland, unsere eigentliche Heimat, überzusiedeln“, erzählt Heinrich Klassen, der als Altenpfleger den Familienunterhalt bestreitet. Liliya kümmert sich vornehmlich um den Haushalt und um die Kinder, 15 Stunden pro Woche arbeitet sie außerdem als Putzfrau in einer Spedition – das wird ihr das Amt später zur Last legen. „Der Grund dafür, warum wir im November 2020 mitten in der Corona-Pandemie hierher gekommen sind, war mein pflegebedürftiger Onkel“, fährt der Ehemann fort.
Er habe seinen Onkel seit 2016 allein in Kasachstan gepflegt, aber sein Zustand hatte sich inzwischen so verschlechtert, daß er rund um die Uhr Betreuung brauchte. Die Lösung: Die Verwandten in Deutschland erklärten sich bereit, die Pflege des Onkels zu unterstützen. „Da haben meine Frau und ich entschieden, uns auch in Deutschland niederzulassen.“
Dabei unterläuft den Klassens aber ein verhängnisvoller Fehler. Heinrich beantragt für Liliya ein EU-Visum (Schengenvisum). Dieses berechtigt allerdings nicht dazu, im Anschluß in der Bundesrepublik eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen, erklärt das Ausländeramt des Landkreises Heilbronn. Liliya hätte stattdessen ein deutsches Visum gebraucht. Das Ausländeramt lehnt ihren Antrag auf eine Aufenthaltsgenehmigung ab. Bis zum 31. Juli muß sie nun freiwillig ausreisen. Danach droht die zwangsweise Abschiebung, samt 30monatigem Wiedereinreiseverbot. Bei der freiwilligen Rückkehr nach Kasachstan würde ein neues Visumverfahren wohl etwa sechs Monate dauern, erklärt uns Klassens Anwalt. Erst dann könnte Liliya wieder zu ihrer Familie nach Deutschland zurückkehren.
„Außergewöhnliche deutsche Familiengeschichte“
„Wir können das nicht verstehen“, sagt Vater Klassen. „Nur weil wir bei der Einreise einen Fehler gemacht haben, soll meine Frau jetzt von mir und unseren Kindern getrennt werden – obwohl sie Volksdeutsche ist, ihre gesamte Familie deutsch ist, und obwohl wir alle Deutsch sprechen.“ Besonders bemerkenswert: Erst im Juni dieses Jahres berichtete die Presse staunend über Liliya Klassens Mutter Nina Dück (siehe Titelfoto, vorne links), die gerade zum 100. Mal Uroma geworden war. „Thüringerin freut sich über 100. Urenkel“, titelte der MDR. Die Bild jubelte: „Das Baby-Wunder von Thüringen – Nina (86) hat schon 100 Urenkel.“ Heinrich Klassen versteht die Welt nicht mehr: „Meine Frau ist Teil einer außergewöhnlichen deutschen Familiengeschichte. Ihre Mutter besitzt einen Vertriebenenausweis. Jetzt soll sie abgeschoben werden?“
Neben der Herkunft führt die Familie gegenüber dem Ausländeramt weitere Argumente gegen die Abschiebung an. Sie weist darauf hin, daß Liliya seit der Einreise erfolgreich einen Integrations- sowie einen Deutsch-Sprachkurs absolviert hat und sich in der christlichen Kirchengemeinde engagiere. Sie habe sogar selbst für ihren Unterhalt gesorgt. Vor allem aber bedeute eine lange Trennung von ihrem Mann und ihren Kindern eine enorme psychische Belastung für alle Familienmitglieder. Zwei der Kinder, Alvina und Rudolf, sind noch minderjährig. „Unsere Kinder brauchen ihre Mutter. Sie leiden jetzt schon unter der angekündigten Abschiebung“, macht der Vater deutlich. „Niemand kann die Rolle meiner Frau auffangen. Unsere Familie braucht sie – voll, ganz und dauerhaft.“
Die Behörden bleiben hart
Davon abgesehen bereitet den Klassens die Korruption in Kasachstan Sorgen. „Wenn meine Frau nach mehreren Jahren im reichen Deutschland jetzt zurückkehrt, glauben die Beamten dort, sie könnten jetzt abkassieren“, gibt Heinrich zu bedenken. „Dann kostet ein Dokument schnell ein Vielfaches des normalen Preises. Außerdem fürchten wir, daß meine Frau eine hohe Strafe bezahlen muß, weil ihr kasachischer Paß inzwischen abgelaufen ist.“ Die kasachische Botschaft in Frankfurt habe das gegenüber Heinrich Klassen angekündigt.
Zusammengefaßt hat Vater Klassen diese Argumente in einem offenen Brief, mit dem er hofft, das Amt umstimmen zu können. Denn trotz persönlicher Vorsprache bleibt die Behörde bislang dabei: Liliya Klassen muß die Bundesrepublik bis zum 31. Juli verlassen. Andernfalls kommt es zur Abschiebung samt 30monatigem Wiedereinreiseverbot.

In der Begründung der Entscheidung schreibt das Amt zwar explizit, Ausnahmeregelungen seien möglich und von der Durchführung des korrekten Visumverfahrens könne abgesehen werden, wenn besondere Umstände des Einzelfalls die Durchführung unzumutbar erscheinen lassen. Diese Umstände seien bei Liliya Klassen jedoch nicht gegeben. Vielmehr überwiege im Fall der 49jährigen das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumverfahrens. Dieses stelle ein bedeutendes Steuerungsinstrument für die Zuwanderung nach Deutschland dar. Bei anderen Ausländern dürfe nicht der Eindruck entstehen, „man könne durch eine Einreise vollendete Tatsachen schaffen“.
Amt leitet Verfahren wegen illegalen Aufenthalts ein
Das Argument der großen psychische Belastung für die Familie läßt die Behörde nicht gelten und erwidert: „Die familiären Bindungen sind aufgrund der Altersstruktur innerhalb der Familie nicht mehr derart eng, daß eine Ausreise nicht mehr zugemutet werden kann.“ Mit Blick auf das jüngste Kind, den 14jährigen Rudolf, argumentiert das Amt, daß in diesem Alter nicht mit einer zu großen Belastung durch die Trennung von der Mutter zu rechnen sei. „In einem solchen Alter wandelt sich die Familie von der Beistands- zu einer bloßen Begegnungsgemeinschaft.“
Weiter heißt es in der Begründung, Liliyas Integrationsleistungen seien zwar positiv zu werten. Da sie aber ihr ganzes Leben lang in Kasachstan verbracht habe, sei davon auszugehen, daß sie sich dort rasch wieder zurechtfinden werde. Darüber hinaus sei die Dauer des neuen Visumverfahrens – voraussichtlich sechs Monate – „nicht als sonderlich lang zu bewerten“. Die von Liliya aufgenommene Arbeit wertet das Amt trotz Steuern und Abgaben als illegal, da eine gültige Arbeitserlaubnis an eine korrekte Aufenthaltserlaubnis gebunden sei.

Insbesondere wirft das Ausländeramt Liliya vor, seit der Einreise im November 2020 fast fünf Jahre lang „zu keinem Zeitpunkt Anstrengungen“ unternommen zu haben, „ihre ausländerrechtlichen Angelegenheiten zu klären“. Sie habe ihre Aufenthaltsgenehmigung erst am 26. März 2025 beantragt, also knapp fünf Jahre nach ihrer Einreise und zwei Jahre nachdem im März 2023 ihr Schengenvisum abgelaufen war. Demnach verfügte sie zu keinem Zeitpunkt über eine Aufenthaltserlaubnis, führt das Amt aus und hat deshalb ein Ermittlungsverfahren wegen illegaler Einreise und illegalen Aufenthalts eingeleitet.
Was, wenn die Entscheidung bleibt?
Die Klassens widersprechen vehement. Sie hätten bereits kurz nach ihrer Einreise für den am 15. Dezember 2020 einen Termin beim Bundesverwaltungsamt vereinbart, um Liliya als Angehörige eines Deutschen anerkennen zu lassen. Das Amt habe diesen Termin jedoch aufgrund eines fehlenden Aufnahmebescheids abgesagt. Im Januar 2023 und 2024 haben sie dann wiederholt vergeblich versucht, sich bei der Ausländerbehörde vorzustellen. Nachweise liegen der JF vor. Da Liliya dann den Integrations- und den Sprachkurs absolvieren, eine Krankenversicherung abschließen und arbeiten durfte, seien sie davon ausgegangen, sie dürfe bleiben. Derart große Schwierigkeiten haben sie nicht erwartet. Eine schwere Fehleinschätzung, wie die Familie heute weiß.
Wie geht es weiter? Der Anwalt der Klassens ist überzeugt, daß Liliya in Deutschland bleiben darf: „Sie hat eindeutig einen Anspruch auf eine Aufenthaltsgenehmigung.“ Der Fall liegt inzwischen bei der nächst höheren Instanz, dem Regierungspräsidium Stuttgart, das gegenüber der JF erklärt, noch nicht genug Zeit für die Prüfung der Angelegenheit gehabt zu haben. Das Bundesinnenministerium ließ eine Anfrage bis zum Redaktionsschluß unbeantwortet.
Was, wenn die Entscheidung bleibt? „Ich werde meine Frau sicher nicht allein zurück nach Kasachstan gehen lassen“, sagt Ehemann Heinrich sofort. Und die Kinder? Kommen alle mit nach Kasachstan? Oder müssen sie in Deutschland ohne die Eltern zurechtkommen? Liliya Klassen scheint diesen Gedanken nicht an sich heranlassen zu wollen. „Wir hoffen einfach, daß alles gut wird“, sagt sie. Allein am Frühstückstisch zu sitzen, kann sie sich nicht vorstellen.
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