SEWASTOPOL. Nun ist es offiziell: Seit dem 11. April stehen die Halbinsel Krim und die an ihrem südwestlichen Zipfel gelegene Stadt Sewastopol in der russischen Verfassung als Teil der Russischen Föderation fest. Sie bleiben getrennte Verwaltungseinheiten – wie zuvor.
Die 386.000-Einwohner-Stadt ist flächenmäßig größer als Berlin und seit 1783 Stützpunkt der Schwarzmeerflotte Moskaus. Die aktuellen Unruhen im Osten der Festland-Ukraine zeigen hier keine Auswirkungen; selbst Strom und Wasser laufen wieder einwandfrei. „Putin sei Dank“, ist in Straßengesprächen zu hören.
Der Siegestaumel ist noch immer stark. An vielen Fenstern der Plattenbauten von Sewastopol hängen russische Flaggen. Mehr als die Hälfte der Autofahrer hat ihre ukrainischen Länder-Kennzeichen mit der weiß-blau-roten Trikolore überklebt. Und im Gespräch sind sich alle Lager einig: Hier am Südzipfel der Krim-Halbinsel sind tatsächlich über 90 Prozent pro-russisch eingestellt.
Die ukrainische Währung, die hier erst schrittweise durch den Rubel ersetzt wird, verfällt am Devisenmarkt zusehends. Und die Schlangen an den Banken sind lang: Nur 500 Griwna gibt es pro Tag. Die bisherigen ukrainischen Geldinstitute werden sich von der Krim voraussichtlich zurückziehen. Selbst die Filialen von „Mc-Donalds“ sind seit einigen Tagen geschlossen – wegen „Betriebsbedingungen außerhalb unserer Kontrolle“.
Profitieren tut der russische Staat
Auch Sergej, 37, bekam die „negativen Folgen der (westlichen) Sanktionen“, wie er sagt, zu spüren: Seinen Montagejob am Hafen hat er verloren. Es kämen einfach „keine Schiffe“ mehr zur Güterverladung, berichtet er.
Auch die Besitzverhältnisse der ukrainischen Firma seien nun unklar. Dabei hatte es auf Flugblättern der Separatistenbewegung noch geheißen: „Die Menschen werden nichts verlieren, aber viele neue Chancen gewinnen.“ Und gerade an den Ankerplätzen hatte Russland stets alles unter Kontrolle.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion gingen 81,7 % der Schwarzmeerflotte in russisches Eigentum über, mehr als 40 Kriegsschiffe blieben in Sewastopol selbst – und mit ihnen 16.000 Marinesoldaten. Zwei Flottenabkommen wurden deshalb zwischen Russland und der Ukraine geschlossen. 1997 erhandelte Kiew eine Pacht von jährlich 97,75 Millionen US-Dollar in Form von Schuldenerlassen für die Zeit bis 2017. 2010 ging der nun abgesetzte Präsident Viktor Janukowitsch einen Schritt weiter: Weitere 25 Jahre gestattete sein Vertrag den Russen die Nutzung von Sewastopol – für einen Rabatt von einem Drittel auf die lebensnotwendigen Gaslieferungen.
Nun hat Russlands Präsident Putin die erwarteten Konsequenzen gezogen: Anfang April setzte er beide Abkommen gesetzlich außer Kraft. Die Zahlungsnot der ukrainischen Übergangsführung wird sich damit weiter verschärfen. Kiew rechnet mit Zusatzbelastungen von weiteren 100 US-Dollar je Tausend Kubikmeter Gas.
Die russische Seele drängte zum Aufstand
Beim Rundgang durch Sewastopol im Monat nach dem Staatenwechsel-Referendum fällt die überraschende Gelassenheit ins Auge. Kriegsschiffe und Soldaten zu fotografieren ist eigentlich nicht erlaubt, es schreitet jedoch niemand ein. Die Männer in grünen Tarn-Uniformen gehören wie selbstverständlich zum Stadtbild: Sie wohnen in den Plattenbauten, haben sich oftmals in hiesige Familien eingeheiratet.
Während einer Busfahrt geben die Kameraden nach und nach ihre Sitzplätze für stehende Frauen frei – „sowjetische Etikette“. Am Rande einer Protestveranstaltung vor der zentralen Statue Pawel Nachimows, im Krim-Krieg 1853-56 Admiral der Kaiserlich-Russischen Marine, nimmt mich ein Mann der Freiwilligen-Brigade „Szamooborona“ zur Seite: Er wirkt wild und gefährlich, genauso wie Anhänger der pro-ukrainischen Minderheit die „unzivilisierten Sibirier“ gerne beschreiben. Doch seine Frage überrascht: „Wie viele lesen bei Euch in Deutschland heute noch die Bücher von Erich Maria Remarque?“
In seiner Gruppe erkennen mich einige der Milizionäre aus Armjansk wieder, mit denen ich Anfang März bei der Einreise auf die Krim unangenehm zusammengestoßen war. Sie berichten, ihre Militär-Uniformen als Gebrauchtware in hiesigen Läden gekauft zu haben und daß die reguläre Armee erst jetzt die neuen Grenzposten am nördlichen Zugang bewache.
Malina, erfahrene Übersetzerin und Betreiberin eines Wohnheims, pflichtet ihm bei: „Zeitweise mussten wir sogar davon ausgehen, daß Putin uns im Stich lassen könnte.“ Doch der „alte russische Wert“ von Wahrheit und Aufrichtigkeit habe sich beim russischen Präsidenten endlich wiedergefunden.
„Nur weil es hier Alkoholprobleme gibt“, so Malina weiter, „heißt das nicht, daß diese Menschen schlecht sind. Nicht zu lügen, nicht zu klauen oder alten Leuten zu helfen – das sind Werte.“ Einen Moralverfall habe es im russischen Raum aber dennoch gegeben, ist sich Malina sicher: „Und zwar unter dem Chaos Gorbatschows. Damals begann die Mordrate nach oben zu schnellen.“
Auch hier ist die Führung de jure illegal
Anton S., kritischer Journalist aus Sewastopol, sieht Probleme bei der Pressefreiheit. „Aber nicht wegen Putin“, betont der stämmige 27jährige, „sondern wegen der Mafia.“ Wer kriminellen Machenschaften in die Quere komme, so Anton, habe jedoch schon zu ukrainischen Zeiten nichts zu lachen gehabt. Er sieht sich aktuell selbst Anfeindungen auf der Straße ausgesetzt, seit er über die Prügelattacke von Protestierern gegen Ex-Bürgermeister Leonid Junku berichtet hat. „Der war von Kiew eingesetzt“, grinst Anton: „Ganz und gar nicht demokratisch. Aber ich schreibe einfach, was passiert.“
Seit dem 23. Februar herrscht mit Aleksei Chaly ein russischer Geschäftsmann über Sewastopol – als Übergangsbürgermeister. „Auf einer Demo ist er ernannt worden“, so Anton, „und vor allem die Großmütter lieben ihn.“ Weltweite Aufmerksamkeit wurde Chaly bei der Unterzeichnung des Einigungsvertrages mit Präsident Putin im März zuteil.
Lesen Sie den zweiten Teil der Reportage am Dienstag, den 22 April, bei JF-Online.