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Fehler von einst wiederholen

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Cato, Palmer, Exklusiv

Noch im Sommer hätte wohl kaum jemand den Namen des italienischen EU-Justizkommissars gekannt. Das ist jetzt anders: Franco Frattini ist in aller Munde. Er ist der Erfinder der „Blue Card“. Ist die Blaue Karte schon jetzt Futter für den Reißwolf oder die Eintrittskarte in die EU für 20 Millionen Einwanderer? In den USA sind mehr als die Hälfte der Immigranten qualifizierte Spezialisten. In der EU nicht: 85 Prozent der Einwanderer sind ungelernte Hilfskräfte, nur 5 Prozent ausgebildete Facharbeiter. Der EU-Kommissar Franco Frattini hat eine Vision: „Wir müssen diese beiden Zahlen umdrehen“, sagte er Anfang September in Lissabon. Das Problem im Hintergrund: die demographische Entwicklung Europas. Der momentane Trend der Bevölkerungsentwicklung zeigt nach unten. Bei konstanter Kurve werden die derzeit etwa 490 Millionen EU-Bürger in den nächsten Jahrzehnten nicht nur weniger, sondern auch älter – bis 2050 im Schnitt über 65 Jahre. Frattinis Rezept: die „Blue Card“. Das Gegenstück zur US-amerikanischen „Green Card“ soll Fachkräften eine Aufenthaltsgenehmigung von zwei Jahren ermöglichen. Und zwar ohne wie bislang ein Jahresgehalt von 85.500 Euro nachweisen zu müssen, was für kleinere mittelständische Unternehmen oft eine zu hohe Hürde darstellt, um ausländische Bewerber zu beschäftigen. Zusatzbonus: Nach einem Arbeitsaufenthalt „von zwei bis drei Jahren“, so Frattinis Gedanke, soll der Inhaber der „Blauen Karte“ dann automatisch das Recht erwerben, sich auch in einem anderen EU-Land seiner Wahl niederzulassen. Der deutsche Wirtschaftsminister lehnt die Idee energisch ab. Michael Glos (CSU) sagte dem Spiegel: „Deutschland kann nicht massenhaft ausländische Arbeitnehmer holen, nur weil wir sie im Moment mal brauchen. Das ist nicht so, als wenn man einen Wasserhahn mal eben auf- und wieder zudreht.“ Im Chor forderten Vertreter der Regierungsparteien, die Entscheidung über Zuwanderung in die EU müsse Angelegenheit der Nationen bleiben. Der Bundestagsabgeordnete Reinhard Grindel (CDU) sieht in Frattinis Vorstoß sogar einen eindeutigen Verstoß gegen den europäischen Verfassungsvertrag. Darin, so Grindel, sei ganz klar geregelt, daß die EU für die nationalen Arbeitsmärkte nicht zuständig sei. Grindel verwies darauf, daß ab dem 1. November ausländische Studenten drei Jahre in Deutschland ihren Beruf ausüben können – falls ihr Studienabschluß in Deutschland anerkannt wird. Jede weitere Ausdehnung, erklärte Grindel, lehne man ab. Frattini verteidigte sich: Von 20 Millionen Zuwanderern auf einen Schlag habe er nicht gesprochen. Tatsächlich hat er lediglich den aktuellen demographischen Trend linear in die Zukunft verlängert. Nach dieser steigenden Kurve ergibt sich in 20 Jahren ein Arbeitskräftedefizit von 20 Millionen – in 30 Jahren sogar von 50 Millionen. Angesichts des rauhen Gegenwinds – „Harter Stoff!“, befand Österreichs konservative Volkspartei – ruderte Frattini noch weiter zurück. Sein Sprecher erklärte: „Frattini hat nie gesagt, die EU brauche 20 Millionen Einwanderer, um das demographische Problem zu lösen! Zuwanderung ist ein Teil der Lösung, aber sicher nicht die Lösung. Zusätzlich braucht es Initiativen in der Familienpolitik.“ Die deutsche Wirtschaft, vertreten vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK), applaudierte dagegen lautstark dem italienischen Kommissar. „Es ist gut“, freute sich DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben gegenüber der Berliner Zeitung, „daß die EU Erleichterungen der Arbeitsmigration anstößt.“ Angesichts der zunehmend älter werdenden Bevölkerung und des Facharbeitermangels, meint Wansleben, sei „Deutschland dringend auf eine stärkere Öffnung des Arbeitsmarktes angewiesen“. Stimmt das überhaupt? Laut einer Studie des Instituts für Arbeits- und Berufsforschung IAB ist nur ein Fünftel der Stellen in Deutschland schwer zu besetzen. In der Informationstechnik-Branche sind es 23 Prozent. „Schwer zu besetzen“ bedeutet, daß von der Ausschreibung bis zur Einstellung eines Bewerbers durchschnittlich 54 Tage vergehen. In der Gesamtstatistik aller Branchen sind es 49 Tage. Sind wir deshalb dringend auf Öffnung angewiesen? IAB-Forscherin Anja Kettner meint: „Beim Klagen über Fachkräftemangel geht es wohl nicht immer darum, daß keine geeignete Person gefunden wird, sondern daß es ganz schnell gehen soll.“ Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) erteilt diesem Anspruch eine klare Abfuhr: „Die Welt ist kein Arbeitskräftereservoir, das man anzapft, wenn im eigenen Land gute Konjunktur ist, aber man nicht genug ausgebildet hat! Wir dürfen nichts tun, was die Neigung verstärkt, sich Aus- und Weiterbildung zu sparen!“ Nach Meinung weiterer Politiker von SPD (Wiefelspütz) bis CSU (Beckstein) würde man die folgenschweren Fehler der sechziger und siebziger Jahre wiederholen, wenn man mit neuen Zuwanderern auch neue Integrationsfragen schaffen würde, bevor die bestehenden Probleme halbwegs gelöst seien. Wie denken die Deutschen über Frattinis Plan? Forsa ermittelte, daß 52 Prozent aller Deutschen, vor allem Arbeiter und Angestellte, eine vermehrte Zuwanderung ablehnen. Mittels Internet-Abstimmungen eilig durchgeführte Umfragen bestätigen dieses Votum: Von über zehntausend Lesern bei Spiegel online fanden satte 60 Prozent, daß Euro-pa „weniger Zuwanderung als heute“ braucht. Zitat aus dem Online-Forum: „Sinn und Zweck ist doch nur, Billiglohnkräfte hereinzuholen, weil man hier ja am liebsten Akademiker zum Lohn eines Leiharbeiters hätte.“ Ein Scherzbold schlägt noch vor, auch die Politiker durch ausländische Fachkräfte zu ersetzen. Während Glos die EU-Weichenstellung auf Einwanderung ebenfalls energisch ableht, wird die Tür derweil schon mal einen Spalt breit geöffnet: Ab dem 1. November 2007 darf die Elektro- und Maschinenbauindustrie Ingenieure aus den neuen EU-Beitrittsländern einstellen, ohne – wie bisher – deutschen Bewerbern den Vorzug geben zu müssen. Arbeitsminister Müntefering („Da kannste echt nicht meckern“) beeilte sich aber zu versichern, daß „abgesehen von diesen Spezialkräften“ deutsche Arbeitnehmer weiterhin grundsätzlich Vorrang haben sollen. Außerdem gibt es seit August 2000 auch in der EU bereits die „Green Card“. Insgesamt sind seither rund 13.500 dieser auf drei Jahre befristeten Ausnahmeberechtigungen vergeben worden. Die meisten Empfänger (ca. 8.000) kamen bei mittelständischen Betrieben mit bis zu 100 Mitarbeitern unter. Die größte Gruppe unter den Begünstigten sind indische IT-Experten (ca. 3.000). Doch das Dokument verliert an Attraktivität: In den letzten zwei Jahren haben insgesamt nur noch dreieinhalbtausend ausländische Arbeitswillige die Green Card beantragt. Der Staatssekretär im Wirtschafts- und Arbeitsministerium Gerd Andres erklärte gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, die Karte habe „bei weitem nicht die Dimensionen angenommen, die von der Wirtschaft vorhergesagt worden waren“. Blutet Deutschland also aus? Es will so scheinen: Allein 2006 verließen über 150.000 Deutsche das Land. Und Gabriele Mertens, die beim Hamburger Raphaels-Werk Auswanderungswillige berät, meint: „Die Statistik erfaßt nur die, die ihren ersten Wohnsitz abmelden. Viele behalten ihn aber erstmal. Darum liegt die tatsächliche Zahl der Emigranten sicher noch höher.“ Auf den zweiten Blick, zeigt sich aber: die meisten sind bald wieder da. Nur ein Fünftel der Auswanderer bleibt für immer fort. Von den Wissenschaftlern sind 80 Prozent nach nur einem Jahr wieder hier. Der Migrationsforscher Thomas Straubhaar erklärt: „Auswandern bedeutet heute nicht mehr wie vor 50 Jahren eine Lebensentscheidung ein für allemal, sondern eher einen Mosaikstein in der Biographie.“ Von einem dramatischen Verlust europäischer Wissenschaftler, der laut Frattini nur durch die Blue Card zu kompensieren sei, kann höchstens bei Vertretern umstrittener Wissenschaften wie der Stammzellenforschung die Rede sein. Einige Politiker nutzten Frattinis Anstoß für besonders originelle Auftritte. Der CDU-Europaparlamentarier Elmar Brok argumentierte geschickt, man müsse doch bedenken, daß arme Staaten durch Abwerbung ihrer Experten unverantwortlich geschwächt würden.Die Sozialdemokraten erklärten, Frattinis Vorschlag sei gut – aber nur mit nationalen Mindestlöhnen zu verwirklichen. Da die CDU sich weiter gegen Mindestlöhne sperre, müßten die benötigten Spezialisten wohl leider draußen bleiben. Und die Grünen forderten erwartungsgemäß, Deutschland dürfe sich nicht länger „durch seine Abschottungsstrategie isolieren“. Am 23. Oktober legte Frattini nun nach und stellte ein konkretes Modell vor: Wer über eine besondere berufliche Qualifizierung verfügt, einen Arbeitsvertrag von einem Unternehmen in der EU vorweisen kann und mindestens das Dreifache des nationalen Mindestlohnes verdient, soll in einem einheitlichen, vereinfachten Verfahren die Blue Card erhalten. Diese gestattet außerdem den Familienmitzug. Bei Nachweis eines Stellenangebotes aus einem weiteren EU-Land kann der Zuwanderer dort hinziehen, ohne die Aufnahmeprozedur wiederholen zu müssen. Schützenhilfe bekam Frattini bei seinem zweiten Auftritt von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Der ergänzte, daß Europa „zweifelsfrei ein Einwanderungskontinent“ sei. Generell muß es nach seiner Auffassung bei legaler Zuwanderung eine Gleichstellung mit EU-Bürgern hinsichtlich wirtschaftlichen und sozialen Rechten wie Bezahlung und Kündigungsfristen, Bildungsanspruch oder Krankenversicherung geben. Frattinis Idee, europäische Akademiker, die in die USA auswandern, durch Kräfte aus Asien und Afrika zu ersetzen, ist nicht der erste bisherige Versuch der EU-Kommission, einheitliche Einwanderungsvorschriften für Europa zu erlassen. Weil es aber auf absehbare Zeit dabei bleibt, daß die Arbeitsmarktpolitik Sache der Mitgliedstaaten ist, wird die Blue Card (vorerst) wohl dort landen, wo die anderen EU-Entwürfe auch gelandet sind: abrufbereit in der Ablage.

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