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Alles längst bekannt

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Am 4. Oktober 1921 fragte das Arbeitersekretariat München bei dem emeritierten Professor Ludwig Joseph (kurz: Lujo) Brentano an, ob er nicht einen Vortrag im allgemeinen Bildungsprogramm halten wollte. Brentano wollte, und obwohl er eher Wirtschaftsfachmann als Historiker war, wählte er das Thema „Die Schuld am Weltkrieg“. Bedenken gegen diese Themenwahl wurden ausgeräumt und am 3. November 1921 fand Brentanos Vortrag im Münchener Gewerkschaftshaus statt. Er wurde ein Erfolg, der in erweiterter Form auch gedruckt wurde und 1922 unter dem Titel „Die Urheber des Weltkriegs“ erschien. Brentano unternahm darin auf gut einhundertdreißig Druckseiten den Versuch, die jeweils gegenseitigen Ziele und Verantwortlichkeiten der Staaten und Staatsführungen aufzuzeigen. Zu dieser Zeit waren noch nicht alle Fälschungen und Verdrehungen der alliierten Publikationen und Stellungnahmen bekannt. Auch saß Brentano der amerikanischen Selbstdarstellung, warum die USA in den Krieg eingetreten waren, einigermaßen unkritisch auf. Doch zeigt sein Beitrag, wie umfangreich und wie fair man im Winter 1921/22 schon mit der kurz zurückliegenden Vergangenheit umgehen konnte – eine denkwürdige Momentaufnahme, aus der wir deshalb folgende Passage zitieren wollen.

„Für England handelte es sich un dem Kriege, den es am 4. August 1914 an Deutschland erklärt hat, um die Aufrechterhaltung seiner Seetyrannei. Die bloße Tatsache, daß England allein unter allen Mächten sich hartnäckig weigert, den Schutz des Privateigentums zur See auch im Kriegsfall anzuerkennen, spricht Bände zur Erklärung seiner Feindschaft gegen das seinem Handel zum Rivalen gewordene Deutschland. Da es aber Englands Tradition ist, in den Kampf nur zu ziehen, wenn es einen Bundesgenossen hat, der sein Blut und Gut opfert, damit es seine Ziele erreiche, brauchte es Frankreich, Belgien, Rußland und Italien, um Krieg gegen Deutschland zu führen. Schon Bernhard Shaw hat gesagt: Es ist nicht England, das Belgien und Frankreich, sondern diese sind es, die England gegen Deutschland verteidigen.

Japaner als Bundesgenossen Englands

Japan war der Bundesgenosse Englands. Es hatte von den Deutschen nur Gutes erfahren. Diese hatten seit 50 Jahren die nach Deutschland kommenden Japaner stets als Freunde behandelt und in allen Wissenschaften und Künsten ausgebildet; aber die Japaner wurden gleichfalls vom Imperialismus erfaßt, und als Bundesgenossen Englands haben sie, um die Deutschen aus Ostasien zu vertreiben, ihnen unter Berufung auf ihre Eigenschaft als Bundesgenossen Englands den Krieg erklärt.

Erst dreiviertel Jahre später erklärte auch der alte Dreibundgenosse Italien an Österreich-Ungarn, und nach Verlauf eines weiteren Jahres auch an Deutschland den Krieg. Es hatte von diesem nur Gutes empfangen. Ihm hat es nach den verlorenen Schlachten von Custozza und Lissa Venezien verdankt; ihm verdankt es den Erwerb von Rom; während seines abyssinischen Krieges war Deutschland für seine Interessen eingetreten; durch den Dreibundvertrag hatte sich Deutschland verpflichtet, ihm zu Hilfe zu kommen, wenn es in Verfolgung seiner Mittelmeer- und afrikanischen Interessen mit Frankreich in Krieg geriete; es hatte sich sogar verpflichtet, ihm in solchem Krieg zum Erwerb französischen Gebiets in Europa behilflich zu sein; und bis unmittelbar bevor Italien an Österreich-Ungarn den Krieg erklärt hat, war Deutschland bei diesem dafür eingetreten, daß Italien ohne jedwedes Blut- und Geldopfer alles Land italienischer Nationalität unter österreichischer Herrschaft und dazu noch Dalmatien und Valona erhalte. Aber Italien verlangte noch mehr, darunter auch das südlich des Brenners gelegene deutsche Tirol. Seine imperialistischen Wünsche gingen weiter, als Deutschland vertreten konnte.

Deutschland strebte keine Gebietsgewinne an

Von all den am Krieg beteiligten Mächten war Deutschland das Einzige, das seinen Nachbarn nichts rauben wollte. Es hatte nicht um Land zu kämpfen, dessen Erwerb ihm etwa unentbehrlich erschienen wäre, hat doch Bismarck den Gedanken abgelehnt, selbst die deutschen Gebiete Österreichs in den deutschen Reichsverband aufzunehmen. Noch weniger konnte es daran denken, französisches oder sonstiges fremdes Gebiet zu erwerben. Ich erinnere mich eines schon vor dem Kriege mit einem mir befreundeten General geführten Gesprächs, der mir mitteilte, daß der Chef des deutschen Generalstabs ihm gesagt habe, wenn es zu einem Kriege kommen sollte, so habe Deutschland kein Kriegsziel; es gebe kein nachbarschaftliches Gebiet, das es begehre. Erst nach den ersten Siegen, welche die Deutschen im Weltkrieg erfochten, als die Zahl der Alldeutschen unheimlich zunahm, ist das Verlangen nach einem ‚Siegfrieden‘ entstanden, das Deutschland so schwer geschädigt hat.

Auch der manchen Deutschen ausgesprochene Gedanke, daß es Kolonien brauche, um für seine wachsende Bevölkerung Ernährungsspielraum zu gewinnen, war falsch; denn seit es ein blühendes Industrieland geworden war, konnte es allen seinen Söhnen innerhalb des Reichsgebietes ausreichende Beschäftigung bieten; war es doch längst aus einem Auswanderungsland ein Einwanderungsland geworden, das jährlich hunderttausende fremder Arbeiter benötigte, um seine wirtschaftlichen Aufgaben zu bewältigen. Aber was es brauchte, war freier Spielraum für die Entfaltung der Kräfte seines Volks. Indem es die Freiheit der Meere gegenüber England verteidigte, suchte es sich diese freie Entfaltung aller Kräfte zu sichern; wäre es ihm gelungen, es hätte sie nicht bloß für die Deutschen, sondern gleichzeitig für alle Völker der Erde gesichert. Und wenn es nach einem Platz an der Sonne rief, so war dies nur ein Ruf nach dem gleichen Recht wie dem anderer Nationen, sich an der Kolonisation unzivilisierter Länder, die von rechtswegen keiner europäischen Macht gehörten, zu beteiligen.“

 

 

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