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Völkerwanderung: Das eigene Verschwinden beschleunigen

Völkerwanderung: Das eigene Verschwinden beschleunigen

Völkerwanderung: Das eigene Verschwinden beschleunigen

Aslybewerber
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Asylbewerber in Berlin demonstrieren für mehr Rechte Foto: picture alliance / Eventpress
Völkerwanderung
 

Das eigene Verschwinden beschleunigen

Dem schuldbewußten Europa fehlt angesichts der momentanen Völkerwanderung der Wille zur Selbstbehauptung. Neben Schwäche und Inkompetenz ist dafür vor allem auch der Wunsch nach Auslöschung verantwortlich, nicht als Individuum, sondern als Teil eines Kollektivs. Eine Betrachtung von Karlheinz Weißmann.
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Einig sind sich hierzulande sämtliche tonangebenden Kreise. Einig darin, daß es gegen die Invasion über das Mittelmeer und Kleinasien kein Mittel gibt, jedenfalls keines, dessen Anwendung in Frage kommt. Voller Genugtuung setzt man sich vom „Mob“, den „Ewiggestrigen“, den „Rassisten“ ab und speist sein Selbstbewußtsein aus überlegener Sicht der Dinge. Dazu gehört auch die Rede von der „Völkerwanderung“.

Dabei dient sie nur als Chiffre, nicht etwa dazu, den Menschen mit der Geschichte einen heilsamen Schrecken einzujagen: durch Erinnerung an den Kollaps der antiken Zivilisation infolge des allmählichen, dann massierten Einsickerns, des geduldeten, dann erzwungenen Festsetzens geschlossener Gruppen, des gescheiterten Versuchs der Assimilation, der Integration, dann der Korruption der immer zahlreicher und mächtiger werdenden Ankömmlinge, ihres Zusammenspiels mit Stammes-, Volks- und Religionsgenossen jenseits der Grenze, des fatalen Zögerns der Eliten angesichts der Notwendigkeit, harte Maßnahmen zu ergreifen, deren Anbiederung an die künftigen Herren und schließlich des gewaltsamen Überrennens der noch vorhandenen, aber längst geräumten Posten.

Ein neuer, darwinistischer Ton

Das Leitmotiv der Stellungnahmen ist Fatalismus. Aber die Klangfarbe wechselt: von ökonomisch (wir müssen den Fachkräftemangel ausgleichen) über demographisch (wir müssen die verödenden Städte im Osten aufsiedeln) und abgeklärt (wir können die Massen nicht aufhalten) bis humanitär (wir dürfen angesichts dieses Elends nicht tatenlos zusehen). Neu ist der darwinistische Ton. Den verdanken wir Hannes Stein, der glaubt, mit dem lapidaren Hinweis darauf, daß es heute noch 738 Millionen Europäer gebe, aber schon 1,4 Milliarden Afrikaner, im Jahr 2100 aber nur noch 646 Millionen Europäer und 4,4 Milliarden Afrikaner, das wesentliche gesagt zu haben.

Die Zahl wird entscheiden, so seine These in einem Welt-Essay (20. August). Der Migrationsdruck aus dem überbevölkerten, armen Süden muß immer weiter wachsen, das Vakuum, das im reichen Norden durch Überalterung und Geburtenrückgang entsteht, einer Art Naturgesetz folgend, durch jene aufgefüllt werden, die vitaler, jünger, kinderreicher, hungriger und risikobereiter sind und den Marsch antreten. Die besondere Pointe dieser Art der Argumentation liegt weniger in der gespielten Harmlosigkeit – „Nichts davon ist unnormal, nichts davon muß einen denkenden Menschen mit Schrecken erfüllen“ –, eher in der zynischen Konsequenz, die Stein zieht: „Europa wird schwarz. So what?“

Erste Scharmützel

Zynisch ist sie insofern, als Stein klar sein muß, daß gegen seine saloppen Behauptungen die entscheidende Tatsache spricht, daß die Einwanderer fremd sind und angesichts ihrer schieren Zahl fremd bleiben müssen, und daß diese Fremdheit im wesentlichen auf der Fremdheit ihrer Kultur beruht, die mit der europäischen nichts oder wenig zu tun hat. Eine Differenz, bei der es keineswegs um Äußerlichkeiten wie die Verwendung von Antibiotika oder Pro und contra Klitorisverstümmelung geht, und erst in zweiter Linie um Biologie. Steins eigener Hinweis auf die latenten und offenbar durch kein Mittel – Zwang, Erziehung, Indoktrination – zu beseitigenden Konflikte zwischen Weißen und Schwarzen in den USA sollten ihn eigentlich daran hindern, den Vorgang als wünschenswert oder auch nur erträglich darzustellen.

Wenn es kommt, wie er hofft, dann wird die europäische Kultur nicht einfach den Träger wechseln, dann werden die schon sattsam bekannten Probleme der multikulturellen Gesellschaften, dann werden das Scheitern von „managing diversity“ und permanenter Überwachung der Sprachcodes, dann werden das Entstehen von Parallelstrukturen und die Zerstörung des Rechtssystems durch das Wuchern ethnischer und religiöser Loyalitätsforderungen nur wie erste Scharmützel vor der großen Schlacht erscheinen, auf die Darwinisten schon immer schaudernd oder freudig gewartet haben: den Rassenkampf, der den der Sondergruppen, Klassen und Nationen absorbiert, vereinfacht, zuspitzt bis zum radikalen Entweder-Oder.

Wunsch nach Auslöschung

Woher die Bereitschaft, gut gelaunt, im Plauderton solche Perspektiven zu eröffnen? Welcher Impuls ist stark genug, um einen weißen Mann am Anfang des 21. Jahrhunderts dazu zu bringen, seinen eigenen Untergang an dessen Ende nicht nur heraufzubeschwören, sondern auszumalen, nicht um den Widerstand zu mobilisieren, sondern um das Sich-Fügen einzufordern?

Wahrscheinlich ist dieser Aspekt in Steins Text noch aufschlußreicher als die eigentliche Argumentation, die er entwickelt. Denn es gibt neben Schwäche, Sentimentalität, Überforderung, Inkompetenz und Verblendung eine weitere und viel mächtigere Kraft, die erklärt, warum sich die Herren des politisch-medialen Komplexes in unserer Lage verhalten, wie sie sich verhalten: das ist der Wunsch nach Auslöschung, nicht als Individuum, sondern als Teil eines Kollektivs. Der ist nicht spezifisch deutsch und nicht besonders neu. Es hat ihn schon in allen möglichen Formen gegeben, berüchtigt war der „jüdische Selbsthaß“, weniger bekannt der masochistische Zug im Verhalten vieler Pariastämme oder -schichten.

Völker tilgten nur nach Niederlagen ihre Identität

In der Vergangenheit gab es immer wieder Völker, die nach militärischen Niederlagen oder nach der Konfrontation mit einer weit überlegenen Zivilisation ihre Identität nicht nur gezwungenermaßen aufgaben, sondern aus eigenem Impuls zu tilgen suchten, von ihrer Minderwertigkeit ganz und gar durchdrungen.

Was den Wunsch von Europäern, ihr eigenes Verschwinden zu beschleunigen oder zu bewirken, zum Sonderfall macht, ist das Fehlen solcher objektiven Gründe. Europa bleibt, trotz aller Probleme, etwas wie eine Insel der Seligen, zwar keine politische Einheit, aber eine Zone, deren Wohlstand nach zwei großen Kriegen ein erstaunliches Maß erreicht hat und deren Stabilität im Vergleich zu allen anderen Gegenden erstaunlich genug wirkt.

Schwärmerei für die „edlen Wilden“

Trotzdem gibt es hier und seit langem einen pathologischen Zug des Seelenlebens, der vielleicht schon in der Schwärmerei für die „edlen Wilden“ einen Ausdruck fand, aber bestimmt im naiven Antikolonialismus, und in der Praxis der Unterstützung von algerischen oder vietnamesischen Befreiungsfronten nicht nur durch Kommunisten, sondern auch durch brave Sozialdemokraten und Kirchenleute.

Lange bevor Frantz Fanon mit seinen Vernichtungsphantasien zum Star der Achtundsechziger aufstieg und die Dritte-Welt-Ideologie zum Grundbestand des gesellschaftlichen Konsensus wurde, dessen Kernaussage lautet, daß nichts, was zum Erbe Europas im eigentlichen Sinn gehört, irgendeinen Wert hat, war unter gebildeten Europäern die krankhafte Vorstellung eingefressen, daß es um den Globus besser stünde, wenn es uns nicht gäbe: „Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen mit einer Klappe treffen.“ (Jean-Paul Sartre).

Perversion einer Religiosität

Man kann darin eine Folge langdauernder Verfallsprozesse sehen oder eine Reaktion auf den tatsächlichen Machtverlust des Kontinents, aber ohne Zweifel spielt auch die Perversion jener Überlieferungen eine Rolle, die Europa ausmachen: der Hang zur Objektivität und zum Allzu-gerecht-Sein vor allem und eine Religiosität, die im Nächsten unter allen Umständen den Bruder sehen will.

Daher rührt das Schuldbewußtsein, die permanente Zerknirschung, der Mangel an Stolz und Entschlußkraft, der fehlende Selbstbehauptungswille. Daher rührt auch die Duldsamkeit gegenüber der Dekadenz, den Migrationsgewinnlern in Feuilletons und der Politischen Klasse, die nicht tut, wozu sie verpflichtet wäre.

Aber es spielt auch eine gewisse Erschöpfung all derjenigen mit, die sich lange und vergeblich gegen die Entwicklung gestemmt haben, und immer wieder feststellen mußten, daß keine warnende Stimme gehört wird. Schon Anfang der sechziger Jahre hielt der französische Schriftsteller Cécil Saint-Laurent resigniert fest: „Der Westen wird der Christus der Welt sein, (…) und er wird mehr als Christus sein, denn dieser wurde von Soldaten gekreuzigt, die zahlreicher und besser bewaffnet waren als seine Apostel. Wir aber bieten uns der Passion dar, obwohl wir immer noch die Stärkeren sind. (…) Das römische Reich ist gegen seinen Willen besiegt worden. Wir werden uns freiwillig besiegen lassen!“

JF 36/15

Asylbewerber in Berlin demonstrieren für mehr Rechte Foto: picture alliance / Eventpress
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